Die neue Ostpolitik

von Gernot Erler

Was vom Krieg übrig bleibt (Ausgabe I/2007)


Die Länder der Region Zentralasien geraten zunehmend in das außenpolitische Blickfeld Europas. Auch wenn die Europäische Union dort bislang noch nicht so sehr als Akteur wahrgenommen worden ist, wird die strategische Bedeutung Zentralasiens in Europa immer deutlicher erkannt. In Russland, China, den USA und Japan ist dies bereits seit längerem der Fall. Daher wird Zentralasien einen Schwerpunkt der deutschen EU-Ratspräsidentschaft im ersten Halbjahr 2007 bilden. Ziel ist es, auf dem Europäischen Rat im Juni 2007 politische Leitlinien für diese Zusammenarbeit zwischen Europäischer Union und Zentralasien zu verabschieden.

Seit der Unabhängigkeit der zentralasiatischen Staaten hat die Europäische Union bereits vielfältige Aktivitäten in der Region entfaltet. Aber sie besitzt bis heute keine klare Bestimmung ihrer Interessen und Ziele sowie einen darauf aufbauenden Ansatz, welcher der wachsenden Bedeutung und der Vielfalt dieser Region gerecht wird.

Kasachstan, Kirgisistan, Tadschikistan, Turkmenistan und Usbekistan durchlaufen seit ihrer nationalen Unabhängigkeit Anfang der 1990er Jahre einen schwierigen Transformationsprozess. Dies gilt vor allem für die Entwicklung von Demokratie, Rechtsstaat und Menschenrechten und wirtschaftlichem Aufbau. Trotz der zum Teil sehr spannungsgeladenen Beziehungen dieser Länder untereinander konnten militärische Konflikte, wie wir sie auf dem Balkan in den 1990er Jahren erleben mussten, vermieden werden.

Sicherheit und Stabilität in Zentralasien sind nicht nur unerlässlich für Frieden und Prosperität in der gesamten Region um das Kaspische und das Schwarze Meer. Sie haben unmittelbare Auswirkungen auf unsere Sicherheit in Mitteleuropa. Als Stichworte sind hier Drogentransit, organisierte Kriminalität und internationaler Terrorismus zu nennen. Auch eine Befriedung Afghanistans kann ohne Stabilität in Zentralasien nicht gelingen.

Die Länder Zentralasiens gewinnen für die Energiesicherheit Deutschlands und der Europäischen Union immer mehr an Bedeutung. Im Kaspischen Raum und in Zentralasien liegen etwa vier Prozent aller Weltenergiereserven. Unter dem Druck wachsender globaler Nachfrage haben diese Vorkommen strategische Bedeutung, denn eine Diversifizierung unserer Energieversorgung ist notwendig. Hier setzt die Baku-Initiative der EU-Kommission an, die integrierte, mit EU-Rechtsstandards kompatible Energiemärkte für Öl, Gas und Strom und deren Anschluss an europäische Netzwerke schaffen will.

Doch es geht um weitaus mehr: Eine wesentliche Voraussetzung für Stabilität und Wachstum in der Region ist die regionale Kooperation der fünf zentralasiatischen Länder untereinander. Daran mangelt es bis heute. Hier kann die Europäische Union durchaus als Modell für regionale Zusammenarbeit dienen, ohne belehrend zu wirken. Dass ethnische und kulturelle Vielfalt, wie wir sie in Zentralasien und im Kaukasus vorfinden, kein Hindernis für enge und vertrauensvolle Zusammenarbeit darstellen muss, ist ebenfalls am europäischen Beispiel erfahrbar.

Wie sehen die konkreten Interessen der Europäische Union in Zentralasien aus? Das Ziel „Stabilität und Sicherheit“ steht an erster Stelle. Unsere Erfahrung sagt uns: Dieses Ziel lässt sich nur über das schrittweise Verwirklichen von Rechtsstaatlichkeit, Demokratie sowie die Gewährleistung menschenrechtlicher Standards erreichen. Die Europäische Union will den Staaten Zentralasiens dabei partnerschaftlich Unterstützung anbieten. Dieser Prozess, der sich an unseren europäischen Grundwerten orientieren muss, kann nur mittelfristig Erfolge hervorbringen. Er muss daher kooperativ und langfristig angelegt sein.

Der Mangel an qualifizierten Lehrern und Ausbildern ist ein schwerwiegendes Problem in allen fünf zentralasiatischen Ländern und ihren Gesellschaften, in der die Mehrheit der Bevölkerung jünger als 26 Jahre ist. Der Verlust an Wissen durch Abwanderung der Eliten hat die Lage verschärft. Schulbildung und berufliche Ausbildung werden daher ein besonderer Schwerpunkt für die Europäische Union in Zentralasien sein.

Auch die Gefahr der Ausbreitung eines militanten islamistischen Fundamentalismus bereitet den überwiegend säkular geprägten Staaten Zentralasiens ernsthafte Sorgen, die von uns nicht übersehen werden dürfen. Unser Ansatz muss sein, diese Länder davon zu überzeugen, dass Rechtssicherheit, wirtschaftliche und soziale Stabilität und die Herausbildung einer funktionierenden Zivilgesellschaft, wie wir sie in Ansätzen in einigen der fünf Länder bereits beobachten können, ein gutes Fundament gegen radikal-islamische Strömungen bilden können.

Bei der Bewältigung dieser Herausforderungen kann die Europäische Union die Länder Zentralasiens unterstützen. Wir werden dabei den Unterschieden zwischen den Ländern der Region besondere Aufmerksamkeit widmen müssen. Alle fünf Länder unterscheiden sich mit Blick auf den Stand der politischen und wirtschaftlichen Transformationsprozesse und ihr kulturelles Erbe. Diesen Gegebenheiten werden wir dabei Rechnung tragen müssen.

Die alte Seidenstraße, die China bereits vor Jahrhunderten mit dem Mittelmeer verband, ist dabei mehr als eine nur historische Reminiszenz. Wenn es uns gelingt, künftig an die große Tradition dieser Verbindung zwischen Europa und Asien wieder anzuknüpfen, werden alle dabei gewinnen können.



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