“Progressiv oder konservativ?”

ein Interview mit Klaus Betz, Anna Kosenkova

Endlich! (Ausgabe I/2020)


“Wer mit zwanzig Jahren nicht Sozialist ist, der hat kein Herz, wer es mit vierzig Jahren noch ist, hat kein Hirn”, lautet ein Zitat, das sowohl Georges Clemenceau als auch Winston Churchill zugeschrieben wird. Herr Betz, was halten Sie als überzeugter Linker mit 72 Jahren von dem Vorwurf, Sie hätten ihren Verstand verloren?

Klaus Betz: (lacht) Das lasse ich mir natürlich nicht gerne vorwerfen. Mir wäre es tatsächlich eher suspekt, wenn ich all meine jugendlichen Überzeugungen mit dem Alter komplett über Bord geworfen hätte. Ich denke auch, dass die Frage, ob jemand progressiv oder konservativ ist, zuerst einmal viel mit der persönlichen Geschichte zu tun hat. Was wehte für ein politischer Wind, als man jung war? Was dachten die Eltern? Ich bin in den 1960er-Jahren aufgewachsen, war also mitten drin in der Studentenbewegung – und hatte Freunde, die über Marx und Engels geredet haben. Wir haben Beat-Musik gehört und die Rolling Stones. Vielleicht entsprach das meinem Charakter oder ich rebellierte einfach nur gegen meine konservativen Eltern und die Verbotskultur, die sie predigten. Wer kann das schon so genau sagen? Hätte ich, als ich mit zwanzig Jahren nach dem Wehrdienst nach Berlin zog, als Erstes eine Wohnung bei einer Burschenschaft bekommen, vielleicht wäre ich dann heute eben ein Burschenschaftler.

Würden Sie unterschreiben, dass die politische Prägung in Abgrenzung von oder Angleichung an das Elternhaus oder das soziale Umfeld entsteht, Frau Kosenkova?

Anna Kosenkova: Natürlich hat das auch viel mit der Biografie zu tun, ja. Aber sicher auch mit der eigenen Lebenssituation. Ich bin in Russland geboren und meine Eltern haben das Leben in der Sowjetunion mitbekommen – und ihren Zusammenbruch. Sie hatten sicher ihre Probleme mit dem damaligen Regime und haben mir das auch vermittelt, nachdem sie mit mir Mitte der 1990er-Jahre nach Deutschland ausgewandert sind. Trotzdem glaube ich nicht, dass mein Konservatismus in Abgrenzung zu ”linken Ideen“ von meinem konservativen Elternhaus inspiriert worden ist. Das kam eher später, als ich erwachsen wurde und mich irgendwie ständig unsicher gefühlt habe. Bekomme ich einen Job? Finde ich eine bezahlbare Wohnung? Kriege ich noch eine Rente, wenn ich alt bin? Das waren alles Fragen, die mich gegen Ende meines Studiums beschäftigt haben. Und ich finde, der Konservatismus strahlt eine Sicherheit und Stabilität aus, die mir und auch vielen anderen jungen Leuten aus meiner Generation sympathisch ist. Vielleicht auch, weil alles andere so unsicher scheint.

Können Sie das nachvollziehen, Herr Betz?

Klaus Betz: Teilweise schon, ja. Ich nehme es auch so wahr, dass die jungen Leute heutzutage anders aufwachsen als meine Generation. Denn wenn ich ehrlich bin, dann musste ich um gar nichts kämpfen in meiner Jugend. Das wird zwar gerne behauptet, weil wir politisch sehr aktiv waren, aber diese Existenzängste hatten wir nicht. Uns fiel beruflich und im Studium alles in den Schoß. Wer so wie ich 1968 sein Abitur gemacht hat, der hatte eigentlich ausgesorgt. Von meinen alten Schulfreunden sind heute die meisten Professoren, Zahnärzte oder Architekten und verdienen gutes Geld. Im schlimmsten Fall wurde man eben Vorschullehrer. Dass das heute anders ist, sehe ich auch an meiner Tochter. Die ist Mitte dreißig und geht nur von Projekt zu Projekt, von befristeter Stelle zu befristeter Stelle. Dass sich die jungen Leute heute um ihre Rente und bezahlbaren Wohnraum sorgen müssen, während wir damals nur so in den Tag hineinleben konnten und gekifft haben, das ist eigentlich eine echte Katastrophe. Aber aus diesen Sorgen und Ängsten muss ja nicht gleich eine konservative Grundhaltung resultieren. Ist nicht zum Beispiel die wirtschaftliche Ungleichheit auf der Welt ein Problem, aus dem viele dieser Ängste resultieren, Frau Kosenkova? Und bedürfte es da nicht radikalerer Lösungen als derer, die uns Konservative anbieten?

Anna Kosenkova: Ich glaube schon, dass sich da generell etwas verändern muss. Ich bin aber auch der Meinung, dass der Staat sich nicht zu viel in das Leben der Bürger einmischen sollte. So muss die Politik auch in der Verteilungsfrage eher zurückhaltend agieren. Wer seinen Reichtum auf legale und faire Art und Weise verdient hat, dem sollte man auch nichts davon wegnehmen. Ich fände es eher gut, wenn wohlhabende Menschen öfter mal aus freien Stücken etwas abgeben und zum Beispiel Charity-Arbeit machen würden. Das sollte aber in ihrem freien Ermessen liegen und nicht die Aufgabe der Politik sein. In jedem Fall gehen solche Veränderungen meiner Meinung nach am besten langsam und vorsichtig vonstatten. Ein radikaler Wandel kann am Ende auch viel Chaos anrichten.

Das sehen nicht alle Ihrer Altersgenossen so: Die Jugendlichen, die derzeit weltweit bei den »Fridays for Future« auf die Straße gehen zum Beispiel, fordern ein radikales Umdenken in der Politik. Wie nehmen Sie das wahr?

Anna Kosenkova: Ich selbst war noch nie auf der Straße und habe protestiert. Auch wenn ich es zum Beispiel wichtig finde, über den Klimawandel zu sprechen, ist eine Demonstration für mich immer ein zweischneidiges Schwert. Mir geht es da zu oft darum, gegen etwas zu sein, anstatt sich für konkrete Ideen einzusetzen. Bei den Protesten in den vergangenen Jahren ging es immer gegen den Kapitalismus, gegen Umweltverschmutzung, gegen dies und das. Aber was wird am Ende wirklich gemacht? Mich nehmen die praktischen Ideen da immer viel mehr mit. Deswegen rede ich zum Beispiel lieber über den niederländischen Meeresschützer Bojan Slat als über Greta Thunberg. Der hat vor einiger Zeit ein System entwickelt, das Plastik aus dem Ozean fischt. So etwas kann mich mehr begeistern als ein Klimaprotest.

Empört es Sie, dass sich Frau Kosenkova nicht empört, Herr Betz?

Klaus Betz: Haben Sie diesem Plastikmenschen denn mal Geld gespendet?

Anna Kosenkova: Ja.

Klaus Betz: Dann ist das ja auch eine Art, sich für Veränderung starkzumachen. Das finde ich okay. Ich kann durchaus verstehen, dass Demonstrationen manchmal mühsam wirken. Aber ich muss Ihnen auch sagen: Manchmal können sie ganze Gesellschaften einreißen und neu entstehen lassen. Mich haben die Klimaproteste zum Beispiel total berührt. Meine Enkelin hat mich letztens mitgenommen, die ist gerade einmal zwölf. Und die sagte dann später: ”Opa, du könntest doch dein Auto verkaufen, du bist doch jetzt Rentner!“ Als ich dann sagte, dass ich doch auch mal einkaufen oder Freunde besuchen müsse, da sagte sie, ich könne ja ein Auto mieten. ”Carsharing“ oder wie sich das heute nennt. Das macht mich stolz, dass sie so kreativ darüber nachdenkt. Jetzt bin ich gerade wirklich dabei, mein Auto zu verkaufen. Manchmal wäre es schön, wenn sich die Jugend auch in anderen Belangen so aktiv einmischen würde wie beim Klimawandel. Ich habe schon das Gefühl, dass meine Generation damals mehr Zeitung gelesen und Nachrichten geschaut hat – und an vielen politischen Belangen interessiert war. Heute schauen die Kids viel in ihre Smartphones und sind in der Breite vielleicht auch etwas entpolitisiert.

Teilen Sie diese Einschätzung, Frau Kosenkova?

Anna Kosenkova: Ich denke, meine Generation ist alles andere als unpolitisch – und erst recht nicht faul, so wie es uns gerne von unseren Eltern und Großeltern vorgehalten wird. Vielleicht fehlt uns manchmal einfach eine Plattform dafür, uns richtig Gehör zu verschaffen. Ich finde zum Beispiel, dass man jungen Leuten auch mal politische und wirtschaftliche Führungsrollen geben müsste, um wirklich einschätzen zu können, was sie eigentlich können. Einerseits werden die meisten Jobs mit Verantwortung und anständiger Bezahlung von den älteren Generationen blockiert und andererseits wirft man uns vor, wir würden nichts verändern. Das finde ich skurril.

Klaus Betz: Da gebe ich Ihnen auch recht. Und ich muss sagen: Wenn alle jungen Leute so ticken wie Sie, dann ist mir nicht bange um die Zukunft. Vielleicht sind Sie ein bisschen mehr Realistin als ich – und vielleicht geht ihnen hier und da der Mut ab, auch mal einen Stein zu werfen gegen das System. Aber Sie lehnen ja Veränderung nicht per se ab und Sie sehen die Welt so, wie sie ist. Das macht mir Mut.

Das Interview führte Kai Schnier



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