Eine Überdosis Egoismus

von Malaika Mahlatsi

Selbermachen (Ausgabe IV/2021)

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„Ich erwarte, dass Bürgerinnen und Bürger in der EU und in den USA ihre Regierungen für den Impfnationalismus zur Verantwortung ziehen.“ Illustration: Timo Lenzen


Am Morgen des 7. April 1994 erwachte das Volk der Tutsi in Ruanda durch den Lärm von Gewehrschüssen. Bald darauf töteten bewaffnete Milizen mit ihren Macheten jeden Tutsi, der sich zeigte. Mehr als 800.000 Tutsi, Hutu und Twa verloren bei dem Massaker ihr Leben. Die Antwort der internationalen Gemeinschaft auf diesen Genozid war ein geradezu hörbares Schweigen. Nicht ein einziges Land griff mit seinen Streitkräften ein, nicht eine einzige Organisation, nicht einmal die Vereinten Nationen, unternahm irgendetwas, um den Menschen in Ruanda zu helfen. Lediglich europäische Staatsbürger wurden von den Soldaten evakuiert. Für jene, die umgebracht wurden, gab es keine Hilfe. Die Welt sah dabei zu, wie sie starben.

Kaum zwei Jahre nach dem Genozid in Ruanda wiederholte sich dieses Schauspiel in kleinerem Rahmen: Während der Meningitis-Epidemie in Nigeria testete der amerikanische Pharma- und Biotechnologiekonzern Pfizer ein neues Antibiotikum an Kindern. Elf von ihnen starben. Später stellte sich heraus, dass Pfizer mit gefälschten Dokumenten gearbeitete hatte – und die Kinder teils eine falsche Dosis der Arznei verabreicht bekommen hatten. Doch erneut blieb die Welt stumm. Erst zwei Jahrzehnte später erhielten Eltern eine finanzielle Entschädigung und erfuhren so etwas wie Gerechtigkeit.

Die unterlassene Hilfeleistung ist also etwas, mit dem sich die Weltgemeinschaft im Umgang mit Afrika auskennt. Überraschen kann es deshalb nicht, dass sie sich auch heute erneut zurücklehnt und dabei zuschaut, wie afrikanische Menschen sterben – diesmal an den Folgen einer Gesundheitskrise. Längst hat sich die Covid-19-Pandemie, die als gesundheitlicher Notfall begann, in Afrika nämlich zu einer sozioökonomischen und politischen Katastrophe von unvorstellbarem Ausmaß entwickelt. Auf einem Kontinent, der schon zuvor ökonomisch unterentwickelt war und in dem Millionen von Menschen unterhalb der Armutsgrenze leben, hat das Coronavirus die Wirtschaft und die schwache soziale Infrastruktur noch weiter beschädigt. 

„In Afrika kommen derzeit auf einhundert Menschen lediglich fünf Impfdosen. In einigen Industrieländern sind es derweil rund 70 Dosen pro einhundert Menschen“

In meinem Heimatland Südafrika, einem der Länder mit der größten wirtschaftlichen Ungleichheit weltweit, hat die Pandemie diese noch verstärkt. Darunter leiden vor allem Menschen mit schwarzer Hautfarbe und insbesondere Schwarze Frauen. Laut einer Studie zur nationalen Einkommensdynamik, die während der ersten Corona-Welle im Jahr 2020 durchgeführt wurde, verloren allein in den ersten drei Monaten der Pandemie drei Millionen Menschen in Südafrika ihren Arbeitsplatz. Zwei Millionen davon waren Frauen. Dies hatte verheerende Auswirkungen auf Millionen von Haushalten und stürzte viele in Hungersnot. Auch die Zahl der Todesopfer ist verheerend: Bis zum 26. Juni 2021 gab es in Südafrika insgesamt fast zwei Millionen Coronafälle und 60.000 Tote. Und just in diesem Moment wird das Land von der dritten Welle der Pandemie heimgesucht. Alles deutet darauf hin, dass sie noch schlimmer werden könnte als die vorherige.

Die Kernursache dieser Krise ist die niedrige Impfquote auf dem gesamten Kontinent: Denn in Afrika kommen derzeit auf einhundert Menschen lediglich fünf Impfdosen (Stand: Oktober 2021). In einigen Industrieländern sind es derweil rund 70 Dosen pro einhundert Menschen. Dementsprechend verfügt weniger als ein Prozent der afrikanischen Bevölkerung über einen vollständigen Impfschutz. Hierfür gibt es unterschiedliche Gründe, doch ausschlaggebend ist der große Mangel an Impfstoffen, die vornehmlich in Europa, den Vereinigten Staaten und in anderen, wirtschaftlich besser situierten Regionen der Welt gehortet werden. Nicht umsonst rief die Weltgesundheitsorganisation (WHO) Anfang August dazu auf, Booster-Impfungen zeitweise auszusetzen, um die Impfungen in Niedriglohnländern zu konzentrieren. „Wir können nicht akzeptieren, dass Länder, die bereits einen Großteil des globalen Impfvorrats aufgebraucht haben, noch mehr impfen“, so WHO-Chef Tedros Adhanom Ghebreyesus damals. 

Bereits vor dem Ende der letzten Impf-Testphasen mit menschlichen Probanden und vor der endgültigen Zulassung der Impfstoffe hatten Länder wie Großbritannien, die Vereinigten Staaten, Frankreich und Deutschland längst Kaufvereinbarungen mit Impfstoffherstellern wie Pfizer, Johnson & Johnson und AstraZeneca getroffen. Mittlerweile haben viele dieser Länder genügend Einwohner geimpft, um eine Herdenimmunität zu erreichen. Vielerorts wurde das Virus so wirksam eingedämmt, dass das wirtschaftliche und soziale Leben mehr oder weniger wieder aufgenommen werden konnte. In Afrika hingegen legt die Pandemie die Gesundheitssysteme noch immer völlig lahm – und fordert viele Menschenleben.

„Natürlich verlangt niemand, dass Menschen in Europa oder den Vereinigten Staaten zugunsten anderer auf ihre eigene Impfung verzichten. Was wir erwarten, ist Solidarität, dass Bürgerinnen und Bürger in der EU und in den USA ihre Regierungen für den Impfnationalismus zur Verantwortung ziehen“

Ich selbst bin mittlerweile so abgestumpft, dass ich nicht einmal mehr weinen kann, wenn mich die Nachricht vom Tod eines geliebten Menschen erreicht. Ich kann nicht fassen, dass sich die Regierungen der Industrienationen inmitten einer globalen Pandemie so niederträchtig verhalten. Doch noch beschämender ist das Schweigen, in dem sich die Bürgerinnen und Bürger dort einrichten – Männer und Frauen, die wissen, was in Afrika und in anderen Ländern der Dritten Welt geschieht, aber trotzdem nicht aufstehen und von ihren Regierungen mehr Gerechtigkeit fordern. Natürlich verlangt niemand, dass Menschen in Europa oder den Vereinigten Staaten zugunsten anderer auf ihre eigene Impfung verzichten. Genauso wie 1994 niemand erwartete, dass Privatpersonen nach Ruanda reisten, um sich den schwer bewaffneten Interahamwe- und Impuzamugambi-Milizen in den Weg zu stellen. Was wir aber erwarten, was ich erwarte, ist Solidarität, dass Bürgerinnen und Bürger in der EU und in den USA ihre Regierungen für den Impfnationalismus zur Verantwortung ziehen, der es armen Ländern unmöglich macht, die Zahl der Infektionen zu senken. Wir erwarten, dass jemand für uns Partei ergreift und mit unserer Stimme spricht, denn wir selbst haben keine Kraft, wir sind zu krank, um für uns selbst zu sprechen. All das ist keine Herkulesaufgabe. Es ist eine moralische Verpflichtung. 

Doch auch die Regierenden meines eigenen Landes und des restlichen Kontinents machen mich wütend. Denn Afrika hatte schon lange vor Covid-19 mit Epidemien zu kämpfen, mit Cholera, Malaria, Dysenterie und dem viralen hämorrhagischen Fieber. Erst vor fünf Jahren forderte der Ebola-Ausbruch in Westafrika die Leben von mehr als 11.000 Menschen. Dennoch gibt es noch immer nur knapp zehn Impfstoffproduzenten auf dem Kontinent und diese verteilen sich auf nur fünf Länder, von denen sich gerade einmal zwei – Südafrika und der Senegal – südlich der Sahara befinden. Und selbst in diesen Ländern gibt es scheinbar nicht die Möglichkeit, in großem Maßstab Impfstoffe zu produzieren. Anstatt die nötige Infrastruktur aufzubauen, plündern unsere Regierungen die Staatskassen und machen gemeinsame Sache mit westlichen multinationalen Konzernen und Regierungen. Sie entrechten ihre eigenen Länder. Wir stecken in dieser Krise also nicht nur, weil wir arm und Afrikaner sind. Wir stecken in dieser Krise, weil unsere Regierenden sich in Europa behandeln lassen, wenn sie krank sind; weil unsere Regierungen die Gesundheitssysteme im eigenen Land brachliegen lassen. 

Nein, die Afrikaner sind nicht die „Bürde des weißen Mannes“. Die Regierungen in Europa und in den Vereinigten Staaten sollen nicht den Babysitter für uns spielen. Aber die Industrienationen tragen Verantwortung dafür, unseren Kontinent zu unterstützen – nicht nur, weil es moralisch korrekt ist, sondern weil der Reichtum des Westens auf den Rücken der Menschen Afrikas aufgebaut wurde. Seit der kolonialen Eroberung und dem transatlantischen Sklavenhandel waren amerikanische und europäische Volkswirtschaften von der Arbeit afrikanischer Menschen abhängig. Bis heute plündern sie die natürlichen Ressourcen Afrikas, während diejenigen, denen sie zugutekommen sollten, jeden Morgen aufwachen und nicht wissen, woher ihre nächste Mahlzeit kommen soll. Bis heute hängen die Volkswirtschaften vieler entwickelter Länder von in Afrika gewonnenen Rohstoffen und dem großen afrikanischen Verbrauchermarkt ab. Einem Markt, der aufgrund kolonialer Strukturen bis heute nicht wirklich in der Lage ist, seine eigenen Produkte herzustellen. Mithilfe Verbündeter in den afrikanischen Regierungen haben die Industriestaaten unsere Länder geplündert. Heute verlieren wir nicht zuletzt deshalb den Kampf gegen die Pandemie.

Vor 27 Jahren sah die Welt zu, wie die Menschen in Ruanda starben, und blieb tatenlos. Sie hielt sich die Ohren zu, um die markerschütternden Schreie der Tutsi, Hutu und Twa nicht hören zu müssen. Diese Geschichte kann nicht mehr umgeschrieben werden. Aber die Corona-Pandemie ist noch nicht vorbei, sie wütet weiter. Deshalb ist es immer noch möglich, zu handeln. Es gibt noch eine Chance, die vielen Afrikanerinnen und Afrikaner zu retten, die in den kommenden Monaten sterben werden, falls die Impfstoffe nicht rechtzeitig bei ihnen ankommen. Ich schreibe dies aus Johannesburg, wo in den letzten 24 Stunden mehr als 10.000 neue Infektionen gemeldet wurden. Ich schreibe dies als 29-jährige Frau. Ich frage mich, ob ich meinen dreißigsten Geburtstag erleben werde. Wie Millionen von Menschen in meinem Land und in Afrika bin ich in großer Panik. Ich will nicht sterben. Wir wollen nicht sterben. Aber wenn wir leben wollen, dann müssen wir die Welt davon überzeugen, dass unser Leben wichtig ist, die Bürgerinnen und Bürger in den Industrieländern davon überzeugen, mehr von ihren Regierungen zu fordern. Sie haben sich zurückgelehnt und zugesehen, wie die Menschen in Ruanda starben – bitte lehnen Sie sich nicht noch einmal zurück.



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