Jungfrau bis zur Hochzeit

von Amir Hassan Cheheltan

Tabu (Ausgabe I/2021)

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Der Autor Amir Hassan Cheheltan. Foto: DPA


„Was ist deine schönste Kindheitserinnerung?“, frage ich meine Frau. „Woran denkst du gern zurück?“ Meine Frau lächelt vielsagend, wendet sich kurz von dem Salat ab, den sie zubereitet, und sagt: „An einem Sommerabend hab ich gesehen, wie meine verliebten Eltern sich auf unserem Balkon leidenschaftlich geküsst haben.“ “Hast du sie später noch mal dabei beobachtet?“, will ich genauer wissen. Und meine Frau antwortet, ohne zu zögern: „Zwei oder drei Mal hab ich sie danach noch so gesehen. Aber das erste Mal hat mich am tiefsten beeindruckt.“

Meine Schwester, zu Besuch bei uns, schüttelt erstaunt, bewundernd den Kopf. „Unsere Eltern haben sich vor unseren Augen nie geküsst. Erstens fanden sie, dass es sich nicht gehört, und zweitens galt es als tabu.“ Und sie sagt: „Mina wird in ein paar Monaten zehn, aber über ihre Periode hab ich noch keine Silbe mit ihr geredet. Das gibt mir zu denken.“ Aufklärung für Mädchen ist in Irans Lehrplänen nicht vorgesehen. Solche Themen sind tabu.

„Bis zu meiner ersten Periode war ich komplett ahnungslos“

Meine Frau fragt meine Schwester: „Und du? Wurdest du über die Menstruation aufgeklärt?“ Meine Schwester schüttelt bedauernd den Kopf: „Bis zu meiner ersten Periode war ich komplett ahnungslos.“ “Meine Mutter hat mir alles erklärt, frühzeitig“, sagte meine Frau. „Einmal, als sie ihre Tage bekam, hat sie sich sogar zum Anschauungsmodell gemacht, hat mir gezeigt, woher das Blut kommt, und sie hat dazu gesagt, dass auch ich in nicht allzu ferner Zukunft einmal im Monat menstruieren werde. Zwei, drei Jahre später, das weiß ich noch, bekam eine Klassenkameradin von mir mitten im Unterricht ihre Tage. Die Arme. Als sie das Blut gesehen hat, ist sie in Ohnmacht gefallen. Allen Mädchen, die verstört im Kreis um sie herumstanden, hab ich dann erklärt, was es damit auf sich hat.“

Meine Schwester ist sichtlich beeindruckt. Meine Frau sagt noch: „Am nächsten Tag war mir die Bewunderung meiner Mitschülerinnen sicher. Sie hatten das, was ich ihnen am Vortag erklärt hatte, zu Hause mit ihren Müttern besprochen, und die hatten das offenbar alles bestätigt. Von dem Tag an wandten die Mädchen sich mit ihren Fragen an mich. Was das Thema anging, fanden sie wohl, ich sei ebenso gut informiert wie die Erwachsenen.“

„Je älter eine Nation, desto mehr Tabus bleiben in ihr bestehen“

Als Tabu gilt in unserer Gesellschaft auch, dass Eltern mit ihren Kindern über die Pubertät sprechen. Das furchtbarste aller Tabus aber betrifft die Homosexualität. Als ich und meine Frau vergangenes Jahr eines Abends spät von einem Besuch bei Freunden nach Hause kamen, war unser Sohn, damals 15, noch wach. Aufgewühlt berichtete er uns, dass er, weil in einer Wohnung im Häuserblock gegenüber noch Licht brannte, gesehen hatte, wie zwei Männer sich innig küssen. Dann schwieg er erwartungsvoll und hoffte, wir würden seine Beobachtung erläutern. Meine Frau, die in diesen Dingen mehr Geschick beweist als ich, erklärte: „Liebe kommt nicht nur zwischen Mann und Frau vor.“

Der Blick unseres Sohnes verriet, dass er nach dieser Antwort so klug war wie zuvor. Ich schob nach: „Auch zwei Männer können ein Liebespaar sein, oder zwei Frauen.“ Meine Frau beeilte sich allerdings, unseren Sohn zu warnen: „Komm bitte nicht auf die Idee, mit anderen Leuten darüber zu sprechen. Es könnte die Menschen, die’s betrifft, ihr Leben kosten.“ Um meinem Sohn zumindest etwas von seiner Irritation zu nehmen, stellte ich weitere Gespräche zur Sache in Aussicht.

Allgemein liegt das Problem ja auch darin begründet, dass wir in einem jahrhunderte­alten Land leben. Je älter eine Nation, desto mehr Tabus bleiben in ihr bestehen. Meine Schwester erinnert sich: „Mama hat mir als Kind das Radfahren verboten. Mit der Begründung, es sei nicht gut für ein anständiges Mädchen. Mein Bruder durfte Rad fahren, so viel er wollte, ohne jede Einschränkung. Das hat mich damals schwer getroffen. Auch zum Ballettunterricht durfte ich nicht und bekam nicht mal eine überzeugende Erklärung dafür, was an Ballett schlecht sein sollte. Erst als ich älter war, hab ich begriffen, was wirklich hinter den Verboten steckte.“

„Weshalb soll, wenn es um die ethisch-moralische Bewertung der Frau geht, Jungfräulichkeit überhaupt eine Rolle spielen?“

Meine Frau sagt: „Weil eine Gesellschaft dem weiblichen Körper einen – vermeintlichen – Wert beimisst, haben entsprechende Tabus so lange Bestand. Weshalb soll, wenn es um die ethisch-moralische Bewertung der Frau geht, Jungfräulichkeit überhaupt eine Rolle spielen?“ Meine Schwester nickt zustimmend und setzt die Überlegung fort: „Damals war noch keine Rede von OPs zur Wiederherstellung von Jungfernhäutchen.“ “Frauen, und die Gesellschaft insgesamt, finden immer Wege, Tabus zu umgehen“, erklärt meine Frau. „Kurzfristig gesehen ist das leider nur eine Scheinlösung, eine Form kollektiver Selbsttäuschung. In Wahrheit führt die eine Anomalie so zur nächsten.“ Der chirurgische Eingriff mag über die Verletzung eines Tabus hinwegtäuschen. Langfristig ändert er nichts daran, dass eine Gesellschaft den Wert einer Frau daran bemisst, ob sie vor ihrer Ehe Jungfrau ist oder nicht. “Ewig lang haben sie uns eingebläut: ›Bleibt Jungfrauen bis zu eurer Hochzeit!‹“, sagt meine Schwester. „Kein Wunder, dass wir den Verlust unserer Jungfräulichkeit für ein nie wiedergutzumachendes Unheil hielten.“

Heute hält sich dieses Tabu zwar noch. Doch auch die Bereitschaft, sich dagegen aufzulehnen, wächst täglich. Ja, die weibliche Jungfräulichkeit ist mit einem der stärksten Tabus überhaupt belegt, das auch in westlichen Kulturen noch nicht ganz überwunden ist. Kürzlich entnahm ich einer Zeitungsmeldung, dass in Seattle in den USA ein Haus niedergebrannt ist. Das Ehepaar, dem das Haus gehört hatte, verwand den Verlust nur schwer. Weil sie das Leid der Eltern nicht länger mit ansehen mochte, und um finanzielle Mittel für ein neues Heim aufzutreiben, versteigerte die zwanzigjährige Tochter ihr Jungfernhäutchen meistbietend. Dabei hatte die junge Frau sich felsenfest vorgenommen, sich nur in einer Liebesbeziehung entjungfern zu lassen. 

Als ich meiner Schwester und meiner Frau den Fall schildere, wendet meine Schwester ein: „In unserer Gesellschaft verhält sich das doch ganz anders. Die junge Amerikanerin hat den Mut, ihr Jungfernhäutchen öffentlich zu versteigern. Hierzulande setzt man sein Leben aufs Spiel, wenn man nicht mehr Jungfrau ist. Schon allein, wer die Gefühle eines Mannes verletzt, ist so gut wie tot.“

Damit sprach sie die jüngst hierzulande begangenen Ehrenmorde an. Drei Morde wurden kürzlich binnen eines Monats verübt. Wobei solche Taten nicht so häufig geschehen, wie es dieser zeitliche Zufall suggerieren könnte, auch wenn der Leiter der Kriminalpolizei bereits vor Jahren erklärte, dass bei 19 Prozent der Morde im Land Ehrverletzung eine Rolle gespielt hat. Dem ersten dieser drei Morde, in einer Stadt im Norden Irans begangen, fiel ein erst 13-jähriges Mädchen zum Opfer, ein Kind noch. Es wurde vom Vater mit einer Sichel umgebracht. Die Tochter war mit einem in sie verliebten jungen Mann von zu Hause weggelaufen. Im zweiten Fall ging es um eine 25-Jährige in Kerman, einer Stadt am Rande der Wüste Lut. Eines Abends kam die junge Frau später nach Hause als sonst. Das brachte den Vater derart in Rage, dass er die Tochter mit einer Axt erschlug. Kermans Polizeichef erklärte vor Journalisten am nächsten Tag: „Der erboste Vater warf eine Eisenstange nach seiner Tochter, die, am Kopf getroffen, ihrer Verletzung erlag.“ Statt seine Tochter ins Krankenhaus zu bringen, hatte der Vater sie, blind vor Wut, am Wüstenrand ausgesetzt. Die Mutter des Opfers bestätigte, der Vater habe ihrer Tochter bereits mehrfach gedroht, sie eines Tages umzubringen. In Abadan, Südiran, schnitt kurze Zeit später ein Ehemann seiner 19 Jahre alten Gattin die Kehle durch.

„Ein Vater betrachtet seine Tochter als seinen Besitz, den er nach eigenem Gutdünken zerstören kann“

Am Fall des 13-jährigen Mädchens ist verwunderlich, dass der Vater sich während seiner stadtweiten Ankündigung der Trauerfeier für seine Tochter als Trauernden ausgab, obwohl er sein Kind ermordet hatte. Den Gesetzen der Scharia nach betrachtet ein Vater seine Tochter als seinen Besitz, den er nach eigenem Gutdünken zerstören kann, ohne das Gesetz fürchten zu müssen. Ein Vater, der sein Kind tötet, muss heutzutage mit höchstens zehn Jahren Haft rechnen. Die Regierung wehrt sich vehement gegen die Änderung dieser Regelung.

Ich wende mich wieder der angeregten Unterhaltung zwischen meiner Frau und meiner Schwester zu. Meine Schwester bittet meine Frau, die damalige Szene unserer Eltern auf dem Balkon ein wenig genauer zu erzählen.

Meine Frau scheint die Begebenheit noch einmal neu zu durchleben und sagt: „Als meine Mutter vom Balkon zurück ins Zimmer gegangen ist, hab ich gesehen, wie ihre Augen leuchteten. Und sie war erstaunlich viel schöner geworden. Das hat mir damals gezeigt, was Liebe zwischen zwei Menschen auch sein kann.“

Aus dem Persischen von Jutta Himmelreich



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