Seit den Anfängen der Dampfschifffahrt ist die Türkei für viele unterschiedliche Menschen ein beliebtes Reiseland. Dabei schien die Arbeitsteilung zwischen türkischen und ausländischen Touristen bis vor wenigen Jahren einfach und nachvollziehbar. Der typische Ausländer, nennen wir ihn Hans, durchkämmte Ruinenfelder zwischen Pergamon und Aspendos, die Kamera in der einen und den Baedeker in der anderen Hand.
Der Einheimische Mehmet überließ Hans die Tempel und Strände und begnügte sich mit der Bewirtung des Fremden. Er bewegte sich in seinem großen und merkwürdigen Land nur ausnahmsweise und dann mit klarer Zweckrationalität. Mehmet – wir bleiben im Klischee – reiste, um den Militärdienst anzutreten, einen kranken Onkel zu besuchen oder sein Rheuma in einem traditionellen Heilbad zu lindern.
Längst aber hat seine Landsmännin Özgür einen neuen Reisestil entwickelt. Sie macht sich, obwohl und gerade weil ihre Familie in der dritten Generation in einer der Metropolen lebt, an die Entdeckung Anatoliens. Sie gehört zu jenem wachsenden unternehmungsfreudigen Mittelklasse-Milieu, für das in den 1970er Jahren der etwas widersprüchliche Begriff „einheimische Touristen“ (yerli turistler) geprägt wurde. Der „yerli turistler“ tritt manchmal auch als Fernreisender auf. Die Tourismus-Seiten der türkischen Massenblätter locken mit Thailand und der Karibik. Die Traumstädte früherer Generationen, Paris und Wien, sehen heute alt aus. Für die türkische Volkswirtschaft sind türkische Auslandsreisen noch Randerscheinungen. Einnahmen aus dem Tourismus bilden dagegen eine sprudelnde Devisenquelle.
Das Land wirbt mit türkisfarbenen Buchten, die sich Badegäste mit glücklichen Meeresschildkröten teilen. Gleichzeitig präsentiert sich die Türkei mit diversen kulturellen Motiven: etwa einer rekonstruierten Fassade aus Ephesus oder wirbelnden Derwischen in der Gefolgschaft des mystischen Dichters Dschelâleddîn-i Rûmî aus Konya. Der Tourismuswerbung stehen alle archäologischen und historischen Schichten zwischen dem präkeramischen Neolithikum und dem späten Byzanz zur Verfügung. Anders als die mineralischen Bodenschätze, die beim Export das Land für immer verlassen, behalten die antiken Stätten ihren volkswirtschaftlichen Nutzwert, solange Menschen die Türkei aufsuchen.
Der bunten Tourismuswerbung stand bisher eine eher farblose Auswärtige Kulturpolitik des Landes gegenüber. So wurden etwa die bisherigen Präsentationen auf der Frankfurter Buchmesse der kulturellen Vielfalt des Landes nicht gerecht. Auch unterhält die Türkei nach wie vor kein Kulturinstitut in Deutschland. Allerding hat es die türkische Kulturpolitik auch nicht leicht: Vom unpolitischen Bildungs- und Badereisenden über den Brüsseler Eurokraten bis zu den Auslandstürken in mehreren EU-Staaten muss sie eine überaus disparate Klientel bedienen. Es ist jedoch erkennbar, dass derzeit ein Umdenken stattfindet, die Türkei künftig im Ausland adäquater darzustellen.
Seit seiner Gründung (1961) ist das Ressort für Tourismus an das Informationsministerium gekoppelt. Seit längerem wird es vom Minister für Kultur verwaltet. Im seinem Aufgabenkatalog steht, dass der Tourismus zu einem „ertragreichen Sektor der Volkswirtschaft“ zu entwickeln sei.
Die Selbstdarstellung der touristischen Türkei unterscheidet sich von der Innensicht. Schulfächer wie Geschichte oder „Religionskultur und Sittenkunde“ werden von einem für andere Epochen Anatoliens fast blinden Turkozentrismus beherrscht. Auch wer ein Provinzmuseum besucht, findet kaum Andenken an die einstigen griechischen oder armenischen Mitbewohner. Nationalisten haben indessen an der von der Türkischen Antikenverwaltung wiederholt geforderten Rekonstruktion hellenistischer und römischer Bauwerke wenig Freude: Man will keine Säulen, die mit Minaretten konkurrieren.
Die Entdeckung des eigenen Landes durch türkische Touristen steht erst am Anfang. In seiner Muttersprache findet Mehmet nach wie vor nur schwer einen vernünftigen Reiseführer. Aber auch in der Türkei gibt es längst Individualisten, die ihr Land zu Fuß oder auf dem Fahrrad erobern, ohne unbedingt einen Beitrag zur Steigerung des Sozialprodukts leisten zu wollen. Auf Dauer lässt sich die Zweiteilung des Türkeibildes – ein unitäres für den hausgemachten Geschichtsunterricht und ein pluralistisches für die Außendarstellung – nicht mehr aufrechterhalten. Anzeichen einer Öffnung des Kanons sind in Erwartung der Frankfurter Buchmesse 2008, in der die Türkei Gastland ist, nicht zu übersehen. Die Verleihung des Nobelpreises an Orhan Pamuk war eine Sternstunde für die Gegenwartsliteratur. Nun erfahren auch im Ausland unbekannte Schriftsteller staatliche Förderungen in Übersetzungsprogrammen.