Hans und Mehmet

von Klaus Kreiser

Unterwegs. Wie wir reisen (Ausgabe II/2007)


Seit den Anfängen der Dampfschifffahrt ist die Türkei für viele unterschiedliche Menschen ein beliebtes Reiseland. Dabei schien die Arbeitsteilung zwischen türkischen und ausländischen Touristen bis vor wenigen Jahren einfach und nachvollziehbar. Der typische Ausländer, nennen wir ihn Hans, durchkämmte Ruinenfelder zwischen Pergamon und Aspendos, die Kamera in der einen und den Baedeker in der anderen Hand.

Der Einheimische Mehmet überließ Hans die Tempel und Strände und begnügte sich mit der Bewirtung des Fremden. Er bewegte sich in seinem großen und merkwürdigen Land nur ausnahmsweise und dann mit klarer Zweckrationalität. Mehmet – wir bleiben im Klischee – reiste, um den Militärdienst anzutreten, einen kranken Onkel zu besuchen oder sein Rheuma in einem traditionellen Heilbad zu lindern.

Längst aber hat seine Landsmännin Özgür einen neuen Reisestil entwickelt. Sie macht sich, obwohl und gerade weil ihre Familie in der dritten Generation in einer der Metropolen lebt, an die Entdeckung Anatoliens. Sie gehört zu jenem wachsenden unternehmungsfreudigen Mittelklasse-Milieu, für das in den 1970er Jahren der etwas widersprüchliche Begriff „einheimische Touristen“ (yerli turistler) geprägt wurde. Der „yerli turistler“ tritt manchmal auch als Fernreisender auf. Die Tourismus-Seiten der türkischen Massenblätter locken mit Thailand und der Karibik. Die Traumstädte früherer Generationen, Paris und Wien, sehen heute alt aus. Für die türkische Volkswirtschaft sind türkische Auslandsreisen noch Randerscheinungen. Einnahmen aus dem Tourismus bilden dagegen eine sprudelnde Devisenquelle.

Das Land wirbt mit türkisfarbenen Buchten, die sich Badegäste mit glücklichen Meeresschildkröten teilen. Gleichzeitig präsentiert sich die Türkei mit diversen kulturellen Motiven: etwa einer rekonstruierten Fassade aus Ephesus oder wirbelnden Derwischen in der Gefolgschaft des mystischen Dichters Dschelâleddîn-i Rûmî aus Konya. Der Tourismuswerbung stehen alle archäologischen und historischen Schichten zwischen dem präkeramischen Neolithikum und dem späten Byzanz zur Verfügung. Anders als die mineralischen Bodenschätze, die beim Export das Land für immer verlassen, behalten die antiken Stätten ihren volkswirtschaftlichen Nutzwert, solange Menschen die Türkei aufsuchen.

Der bunten Tourismuswerbung stand bisher eine eher farblose Auswärtige Kulturpolitik des Landes gegenüber. So wurden etwa die bisherigen Präsentationen auf der Frankfurter Buchmesse der kulturellen Vielfalt des Landes nicht gerecht. Auch unterhält die Türkei nach wie vor kein Kulturinstitut in Deutschland. Allerding hat es die türkische Kulturpolitik auch nicht leicht: Vom unpolitischen Bildungs- und Badereisenden über den Brüsseler Eurokraten bis zu den Auslandstürken in mehreren EU-Staaten muss sie eine überaus disparate Klientel bedienen. Es ist jedoch erkennbar, dass derzeit ein Umdenken stattfindet, die Türkei künftig im Ausland adäquater darzustellen.

Seit seiner Gründung (1961) ist das Ressort für Tourismus an das Informationsministerium gekoppelt. Seit längerem wird es vom Minister für Kultur verwaltet. Im seinem Aufgabenkatalog steht, dass der Tourismus zu einem „ertragreichen Sektor der Volkswirtschaft“ zu entwickeln sei.

Die Selbstdarstellung der touristischen Türkei unterscheidet sich von der Innensicht. Schulfächer wie Geschichte oder „Religionskultur und Sittenkunde“ werden von einem für andere Epochen Anatoliens fast blinden Turkozentrismus beherrscht. Auch wer ein Provinzmuseum besucht, findet kaum Andenken an die einstigen griechischen oder armenischen Mitbewohner. Nationalisten haben indessen an der von der Türkischen Antikenverwaltung wiederholt geforderten Rekonstruktion hellenistischer und römischer Bauwerke wenig Freude: Man will keine Säulen, die mit Minaretten konkurrieren.

Die Entdeckung des eigenen Landes durch türkische Touristen steht erst am Anfang. In seiner Muttersprache findet Mehmet nach wie vor nur schwer einen vernünftigen Reiseführer. Aber auch in der Türkei gibt es längst Individualisten, die ihr Land zu Fuß oder auf dem Fahrrad erobern, ohne unbedingt einen Beitrag zur Steigerung des Sozialprodukts leisten zu wollen. Auf Dauer lässt sich die Zweiteilung des Türkeibildes – ein unitäres für den hausgemachten Geschichtsunterricht und ein pluralistisches für die Außendarstellung – nicht mehr aufrechterhalten. Anzeichen einer Öffnung des Kanons sind in Erwartung der Frankfurter Buchmesse 2008, in der die Türkei Gastland ist, nicht zu übersehen. Die Verleihung des Nobelpreises an Orhan Pamuk war eine Sternstunde für die Gegenwartsliteratur. Nun erfahren auch im Ausland unbekannte Schriftsteller staatliche Förderungen in Übersetzungsprogrammen.



Ähnliche Artikel

What? Wie wir fremde Sprachen übersetzen (Thema: Übersetzen)

Frisches Blut

von Iain Galbraith

Wie die Kulturen an den Rändern Großbritanniens auf die englische Literatur einwirken

mehr


Ich und alle anderen (Thema: Gemeinschaft)

Frauen auf Sendung

protokolliert von Isis Elgibali

In der kurdischen Stadt Halabdscha im Nordirak leben hunderttausende Geflüchtete aus Syrien und dem Zentralirak. Zwei von ihnen sind Hanin Hassan und Hevy Izat Ahmed. Gemeinsam mit der einheimischen Shadan Habeb Fathullah und anderen Frauen machen sie die wöchentliche Sendung „Refugee for Refugee Radio“ bei Radio Dange Nwe. Sie dokumentieren Geschichten von der Flucht und erzählen von Verlusten, Hoffnungen und die Angst vor der Rückkehr in die Heimat. Vier Protokolle

mehr


Neuland (Thema: Flucht)

Allein mit dem Smartphone

von Mojahed Akil

Etwa zwei Millionen syrische Geflüchtete befinden sich zurzeit in der Türkei. Die App „Gherbetna“ hilft ihnen sich zurechtzufinden

mehr


Wir haben die Wahl. Von neuen und alten Demokratien (Thema: Demokratie)

Ich als Demokrat

von Cem Özdemir

Ein Parlamentarier schildert seine persönlichen Erfahrungen mit unserem politischen System

mehr


Neuland (Weltreport)

Staat gegen Presse

von Semra Pelek

In der Türkei werden unabhängige Medien unter staatliche Verwaltung gestellt und Journalisten entlassen oder eingesperrt. Ein Bericht aus Istanbul 

mehr


Unterwegs. Wie wir reisen (Thema: Reisen)

Wollmützen im Friedenscamp

von Subcomandante Marcos

Seit zwölf Jahren reisen Menschenrechtsbeobachter aus aller Welt ins mexikanische Chiapas

mehr