Unter Kreml-Astrologen

von Carmen Eller

Weniger ist mehr. Über das Wachstum und seine Grenzen (Ausgabe I/2011)


„Das muss weg.“ Der Polizist deutet auf das selbst gemalte Plakat, das zwei alte Frauen in Moskau gerade am Wohnhaus von Anna Politkowskaja befestigt haben. Hier wurde die russische Journalistin am 6. Oktober 2006 durch Kopfschüsse getötet, als sie mit vollen Einkaufstüten nach Hause kam. Das Plakat zeigt sie mit dem Hals in einer Schlinge, in den Händen hält sie Schwert und Waage: die Journalistin als russische Justitia. „Das muss weg“, sagt der Polizist noch einmal. Die Frauen rühren sich nicht. Da schreitet der Mann selbst zur Tat. „Schaut, jetzt entfernt er das Plakat“, ruft jemand und sofort stürzen die Kameras der anwesenden Journalisten auf die Gruppe.

Vergleichbare Szenen habe ich in meiner Zeit bei der Moskauer Deutschen Zeitung (MDZ) immer wieder erlebt. Über das Entsendeprogramm des Instituts für Auslandsbeziehungen war ich dort von 2005 bis 2007 verantwortlich für das Feuilleton. Die zweiwöchentlich erscheinende Zeitung ist ein Zwitter, eine russisch-deutsche Koproduktion, konzipiert von einheimischen und ausländischen Journalisten. Gegründet wurde sie 1870, geschlossen 1914, neu gegründet 1998. Vor allem Geschäftsleute, Touristen und Studenten greifen zur MDZ. Dazu Diplomaten und so mancher Veteran, der sein Deutsch noch in der Kriegsgefangenschaft lernte.

„In Moskau leben geschätzte 8.000 Deutsche und viele davon sprechen kein Russisch. Allein das ist ein starkes Argument für eine deutschsprachige Zeitung“, sagt der dienstälteste Redakteur Tino Künzel, der vor sechs Jahren aus Chemnitz nach Russland kam. Die MDZ ist der Versuch, vielfältig über den größten Staat der Erde zu berichten. Bei der oft einseitigen Berichterstattung ausländischer Medien über Russland werde „auf eine eigenartige Weise gefiltert, was man zur Kenntnis nimmt“, meint Künzel. „Viel zu häufig geht es nicht darum, Russland unvoreingenommen verstehen zu wollen, sondern es als Gegenpol zu nutzen, um das eigene Wertesystem zu unterstreichen.“

In den jüngsten Ausgaben der MDZ finden sich Artikel über Arbeitsmigranten aus ehemaligen Sowjetstaaten, über Computerkriminalität oder über die Sparmaßnahmen der Deutschen Botschaft. Unter dem Titel „Abrechnung mit Kreml-TV“ druckte die Zeitung vor Kurzem auch einen Beitrag des Fernsehmachers Leonid Parfjonow über das regimetreue TV-Programm. Der eine oder andere russische Journalist wisse es zu schätzen, dass er bei der MDZ keine „übertriebenen Rücksichten“ nehmen muss, meint Künzel. Bedroht worden sei das Blatt noch nie.

„Unabhängige Zeitung für Politik, Wirtschaft und Kultur“, heißt es auf dem Titelblatt. Aber eigentlich war die MDZ für mich vor allem eine Schule fürs Leben. Die wichtigste Lektion lautete: Demokratie ist kein Selbstläufer. Man muss immer neu um sie ringen. Manche Szenen von Protest und Polizeigewalt werde ich nicht vergessen, etwa den „Marsch der Nichteinverstandenen“. Demonstranten, die von der Polizei errichtete Gitter umstoßen und rufen: „Eto nasch gorod! Das ist unsere Stadt!“ Junge Männer, die von der Straße geschleift werden. Rentnerinnen mit Krücken, die sich Militärfahrzeugen entgegenstellen. Zum Glück landete ich nie selbst in einem solchen, wie manch anderer Kollege. Wohl um Missverständnisse dieser Art künftig zu vermeiden, teilte man uns Journalisten neongelbe Signaljacken aus. Vereinzelt gibt es sie bis heute. Weil Oppositionelle nicht oder nur dezentral protestierten durften, es aber trotzdem an selbst gewählten Orten taten, wurden ihre Versammlungen regelmäßig aufgelöst. Auch die Deutschen, so erklärte man mir, wüssten doch nicht genehmigte Demonstrationen zu verhindern. Selbst die Unfreiheit hat ihre Logik.

Als Journalistin in Russland lernte ich auch: Die rote Festung des Kreml ist in Wahrheit eine Blackbox. Wer hinter die Mauern der Macht blicken will, stochert im Dunkeln. Weil Journalisten wie Sternenkundler oft spekulieren müssen, nennen sie sich selbstironisch Kreml-Astrologen. Die Zeit in Moskau hat mir aber auch Respekt eingeflößt. Vor den Russen, die für ihre Überzeugungen einstehen und Deutschen offen gegenübertreten. Am 9. Mai, an dem das Riesenreich mit Paraden und Popcorn den Sieg über Hitlerdeutschland feiert, begegnete ich 2006 einer Veteranin, die Mann, Sohn und Vater im Krieg gegen die Deutschen verloren hatte. „Die neue Generation kann es besser machen“, sagte sie zu mir und lächelte so breit, dass ich alle ihre Zahnlücken sehen konnte.



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