Test the West

von Jasna Zajcek

Weniger ist mehr. Über das Wachstum und seine Grenzen (Ausgabe I/2011)


Als er vor zwei Jahren beim Graffiti-Sprühen erwischt wurde, bekam der 20-jährige Michel die ganze Macht des syrischen Staatsapparates zu spüren. Er war dabei gewesen, den Namen des Mädchens, in das er verliebt war, auf einer Brandmauer zu verewigen. Zivilpolizisten verhafteten ihn, steckten ihn in eine schmutzige Zelle und verprügelten ihn. Erst seinem Vater gelang es, den Jungen wieder zu befreien.

Fälle wie dieser werden seltener. Die syrische Jugend ist im Aufbruch: Ihre Musik, ihre Moden und Tänze lassen sich von den staatlichen Stellen nicht mehr verbieten. Die jungen Syrer lassen sich inspirieren von denen, die im Ausland ein selbstbestimmtes Leben kennenlernen konnten. Hip-Hop, Breakdance und Rockmusik sind aus dem Alltag der Jugendlichen nicht mehr wegzudenken.

Michel lernte das Graffiti-Sprayen bei einem Besuch in Australien und begann unter Anleitung seines Cousins seine ersten Breakdance-Figuren einzustudieren. Die schnelle, abgehackt-rhythmische Musik, die eingängigen Melodien und die für ihn vollkommen neuen Geräuscheffekte reizten den Turner, der mitten im Gespräch kurz aufsteht und einen Flickflack vorführt.

Als er nach einem halben Jahr in Australien wieder nach Syrien zurückkehrte, brachte er DVDs über Street Art mit und zeigte seinen Freunden erste Tanzschritte. Die waren begeistert: „Endlich kam jemand mit einem Hobby aus dem Ausland, das cool war, das man überall trainieren konnte, sportlich war und sogar die Mädchen beeindruckte“, erzählt Michel. Dass es illegal war, verstand er damals nicht. Er war der Überzeugung, dass in einem Land wie Syrien, in dem der traditionelle Dabke-Tanz als nationales Kulturgut hochgehalten wird, ein anderer Tanz, ebenfalls von Männern in einem Kreis getanzt, doch kein Vergehen darstellen kann. 
 
Auf der Suche nach neuen Choreografien und anderen Breakdancern in Syrien musste er die staatliche Sperrung vieler Downloadseiten und Social Networks – Youtube, Facebook, Skype sind in Syrien verboten – umgehen und entwickelte sich so nebenbei auch noch zu einem Computerexperten. „Als ich 2006 gerade aus Australien zurück war, trainierte ich ein wenig mit meinen Kumpels auf der Straße vor unserem Haus in der Altstadt von Damaskus“, erzählt Michel. „Schon nach zwanzig Minuten kam die Schurta Achlaquia, die Sittenpolizei, und befahl uns, das ‚illegale Treiben’ zu beenden.“ Ob sie denn den Teufel anbeteten, wurden Michel und seine Freunde gefragt, und was das alles für einen Sinn habe. Die Beamten verboten die Versammlung mit Musik und Tanz und schickten die Jungen nach Hause. Fortan mussten Michel und seine Freunde daheim im Kinderzimmer üben, mit dem Resultat, dass Michels elfjähriger Bruder, mit dem er sich das Zimmer teilte, sein talentiertester Schüler wurde. „Noch fünf Jahre, dann kann er locker einen Breakdance-Wettbewerb gewinnen“, war Michel überzeugt.

Lange Zeit war der Tanz aus den USA offiziell verpönt. In Damaskus erklärten staatliche Vertreter unter Berufung auf die religiösen Führer, HipHop und Rap seien Teil einer israelisch-inspirierten neuen Methode, die gesamte Weltjugend zu verführen, weg von den islamischen Werten, der arabischen Tradition und Kultur. Breakdance sei „Negerkultur“. Drogensucht, Promiskuität, Teenagerschwangerschaften und die Abwendung vom Islam seien die Folgen. 
 Ein Vorreiter für das sanfte Aufwachen war wahrscheinlich das erste öffentliche Rockkonzert in der Altstadt von Damaskus im August 2010. Nur einige wenige wussten die Zeilen „We don’t need no education“, von der engagierten Damaszener Sängerin Nour eingänglich vorgetragen, zu deuten.

Im Club „Jasmin“ in Damaskus steht die Luft. Electrosounds aus den 1970er- und 1980er- Jahren, von The Rock Steady Crew und Afrika Bambaataa, erklingen mit 120 Dezibel über der Tänzerschar und den begeisterten Zuschauern. Über 500 meist männliche Jugendliche, aber auch ihre Schwestern und Eltern sind in dieser Freitagnacht Ende Oktober zusammengekommen, um in Syriens erstem „Battle of the Year“ den besten Breakdancer unter ihnen zu ermitteln. Aus dem Libanon sind die Rapper von RGB 961 und die arabische First Lady des Hip-Hop, Marika aus Beirut, angereist. Im „VIP“-Bereich sitzen rund 20 Mütter, alle mit Kopftuch, und freuen sich an den Tanzvorführungen ihrer Söhne. Rund 40 Jahre, nachdem der Sound der schwarzen New Yorker Jugendkultur seinen Siegeszug rund um die Welt antrat und seitdem bis auf wenige Ausnahmen seinen festen Platz in den urbanen Subkulturen des Westens gefunden hat, wagen 15 ausschließlich männliche Jugendliche zum ersten Mal ihre Choreografien in Syrien öffentlich vorzuführen.

Organisiert wurde das Battle von der „Energy Crew“ hinter dem Namen verbergen sich Michel und zwei Mitstreiter: Den einen von ihnen, den 22-jährigen Amer al-Turk, mit dem er mittlerweile Musik mixt und produziert, lernte Michel in seinem Betriebswirtschaftsstudium an der Universität Damaskus kennen. Der Dritte im Bunde ist ein gemeinsamer Freund und Musikproduzent: Mahmoud. Breakdance, erklärt Amer al-Turk, sei im benachbarten Libanon und in den Vereinigten Arabischen Emiraten schon eine anerkannte Sportart, deren Wettbewerbe von internationalen Firmen gesponsert würden. Die Sieger erhalten hohe Preisgelder, geben Fernsehinterviews und werden zu landesweit bekannten Stars. Außerdem dürfen sie ihr Land bei internationalen Meisterschaften vertreten.
 „Nun sind wir auch endlich so weit!“, freut sich Amer, der viel Zeit und Energie in die Organisation des „Battle of the Year“ gesteckt und ausreichend Sponsorengelder – 3.500 Euro – eingetrieben hat. Sogar selbst produzierte Radiospots konnten sie auf einer der neuen, zwar staatlich regulierten, aber doch privat betriebenen Radiostationen senden.

Trotz dieser allmählichen Öffnung für die Jugendkultur beachtet Michel seit seiner Verhaftung dennoch einige Regeln. Gesprayt wird nur noch auf dem Dach seiner Eltern – und auf Leinwand. „Erst hat es mich geärgert, ich wollte doch nur das alte graue Damaskus mit ein wenig Farbe und Friedensbotschaften verschönern“, erzählt Michel. Inzwischen hat er sich mit der Situation abgefunden. Diese hat aber auch Vorteile: denn so ist er gezwungen, eigentlich leicht vergängliche und kurzlebige urbane Kunst von vornherein mit einer längeren Halbwertszeit zu schaffen, und malt daher präziser und mit durchdachtem Farbkonzept.

Doch nicht nur, weil sie sich Freiräume erobert haben, allein durch ihre Zahl wird die Jugend in Syrien ein immer wichtigerer Teil der Gesellschaft: Die Bevölkerung des Landes nimmt seit Anfang der 1990er-Jahre um durchschnittlich 2,4 Prozent jährlich zu. Mittlerweile sind fast 45 Prozent der Einwohner jünger als 14 Jahre. Die langsame Öffnung für die Jugendkultur steht in Syrien in einer Linie mit sozialen und wirtschaftlichen Transformationsprozessen. 2004 unterschrieb Präsident Baschar Al-Assad ein Dekret, mit dem der Übergang von der staatlichen Planwirtschaft zu einer liberalen Wirtschaft eingeleitet wurde. Die ökonomische Stagnation und anhaltend hohe Arbeitslosenraten hatten den Präsidenten zu diesem Schritt bewegt.

Die Liberalisierung der Wechselkurse, die Anpassung der Steuertarife oder auch die Öffnung des Bankensektors für Privatbanken hat bereits stattgefunden. „Die Ergebnisse der Öffnung und der Reformprozesse schätze ich insgesamt als positiv ein“, erklärt Ulrike Lassmann, die Leiterin des Büros der KfW Entwicklungsbank in Damaskus. Seitdem die Regierung im Jahr 2007 den Syrian Trust for Development eingerichtet hat, ist die Zahl der NGOs um rund 1.000 auf 1.500 gestiegen. Der Trust hat zur Aufgabe, bislang ausschließlich staatliche Sozialleistungen zivilgesellschaftlichen Organisationen zu übertragen.

„Ein bemerkenswerter Schritt zur Koordination der NGO-Arbeit wurde mit dem Trust gemacht, denn so kann sichergestellt werden, dass verschiedene Bereiche in der Gesellschaft auch aus der Zivilgesellschaft heraus unterstützt werden“, erklärt Nader Kabbani, Direktor der Forschungsabteilung des Syrian Trust for Development. „Und wie wichtig die erste internationale Entwicklungskonferenz in Damaskus im Januar 2010 war“, fährt er fort, „hat besonders die Präsidentengattin Asma al-Assad erkannt und angekündigt: ‚Es wird bald neue Gesetze geben, die einen modernen Rahmen für zivilgesellschaftliche Organisationen bieten.‘“ Denn es sei nicht möglich, so Asma al-Assad, ein Land nach vorn zu bringen ohne eine aktive und verantwortungsvolle Zivilgesellschaft. Zweifelsohne sind diese Äußerungen ein großer Schritt für Syrien, dessen Politik lange gegen Neuerungen und für den Machterhalt der Baath-Partei, aber nicht für Innovationen in der Gesetzgebung, die den Bürgern mehr Eigenverantwortung und Rechte zusprechen, bekannt gewesen ist.

Präsident Baschar al-Assad und seine sozial engagierte Frau haben allem Anschein nach erkannt, dass nur eine beschäftigte Jugend eine friedliche und produktive Jugend sein kann. Denn dank Satellitenfernsehen, Internet und Besuchen bei Verwandten im Ausland lernen die jungen Syrer, dass Aktivitäten nicht mehr nur vom Staat gesteuert sein müssen, um überhaupt durchführbar zu sein. Im Gegenteil: Der Syrian Trust for Development, dessen Schirmherrin die First Lady ist, unterstützt „Individualitätsbestrebungen der Jugendlichen in geregelten Bahnen“.

Zum einen halte eine ausgefüllte Freizeit sie von den islamistischen Seelenfängern fern, heißt es, zum anderen, erklärt die Geschäftsleitung des Trusts öffentlich, sei es nötig, „die Jugend auf eine erfolgreiche Zukunft im neuen geöffneten Wirtschaftssystem vorzubereiten“. Dass die Öffnung aber sehr langsam und mit Bedacht vonstatten gehen muss, damit weder Turbokapitalismus noch sektiererische Unruhen das relativ stabile Land aus dem Gleichgewicht bringen, scheint dem Präsidenten klar zu sein. Er schaffte es erst unlängst – gegen den Willen der Altvorderen –, einige alte Kaderpositionen mit jungen Anhängern zu besetzen. Im neuen nationalen NGO-Gesetz wird in Kürze, so heißt es vom Syrian Trust for Development, endlich das Ziel der gesellschaftlichen Modernisierung formuliert. Denn offiziell will der Staat sich nicht von seinen Aufgaben zurückziehen, sondern andere Schwerpunkte setzen. Offiziell – laut Präsidentengattin Asma al-Assad – klingt das dann so: Das Land könne nicht nur vom Staat allein nach vorn gebracht werden. Bürgerbeteiligung sei für ein modernes Syrien unabdingbar. Und deshalb sind junge engagierte Menschen wie Michel und die „Energy Crew“, die die syrische Kulturnation für die westliche Jugendkultur öffnen, so wichtig.



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