„Westliche Männer und Frauen suchen Macht“

ein Gespräch mit Franck Michel

Unterwegs. Wie wir reisen (Ausgabe II/2007)


Beschreiben Sie bitte den typischen Sextouristen.

Den gibt es nicht. Neben dem bekannten Klischee des älteren, etwas perversen Mannes aus dem Westen, findet man heute auch junge Leute aus den Vororten der großen europäischen Städte. Der Sextourist verschmilzt mit der Masse der Touristen und ist kaum noch von den anderen zu unterscheiden.

Warum ist das so?

Es gibt zwei Faktoren: Erstens erleben wir im Westen gerade eine Art sexueller Identitätskrise. Für Männer heißt dies beispielsweise: Zweifel an der eigenen Männlichkeit, erhöhten Wettkampf und Existenzängste. Also begeben sich viele auf die Suche nach Frauen in östlichen und südlichen Ländern. Hierbei handelt es sich übrigens um ein ziemlich neues Problem. Der zweite Grund ist die Globalisierung der Menschenströme. Der Tourismus und die Sexindustrie sind zwei Wirtschaftszweige, die stark von der Globalisierung profitieren. Beispielsweise kann es passieren, dass ein durchschnittlicher Tourist zum Pauschalurlaub nach Antalya reist und sich in einem von der russischen und türkischen Mafia geführten Hotel mit 200 russischen Mädchen wiederfindet. So ein Überangebot kann durchaus eine Versuchung darstellen.
 
Sie sprechen von unterschiedlichen Typen des Sextouristen. Gibt es auch Sextouristinnen?

Zunächst darf man nicht vergessen, dass es weltweit zu mehr als 95 Prozent immer noch Männer sind, die Frauen und Kinder missbrauchen. Darüber hinaus stimmt es aber tatsächlich, dass man einen starken Trend zu einem weiblichen Sextourismus beobachten kann, der sich allerdings auf spezifische Regionen konzentriert, zum Beispiel den Senegal, Kenia, Ägypten und Marokko. Auch sind vor allem Haiti und Kuba bei älteren Europäerinnen beliebt, die sich dort bevorzugt junge Schwarze suchen und damit Klischees folgen, die mit unserem kolonialen und kulturellen Erbe zusammenhängen.
 
Wie erklären Sie sich diesen Trend?

Die westlichen Frauen durchleben gerade eine ähnliche Krise wie die Männer. Einerseits wird es immer schwieriger, einen Partner zu finden in einer Gesellschaft, in der nur die Arbeit zählt. Demgegenüber wird andererseits auch das Familienleben komplizierter. Hinzu kommt die alltägliche Unterdrückung durch den Ehemann oder den Chef. Die Ferien bieten dann oft die einzige Möglichkeit, sich fallen zu lassen und vor allem etwas Macht wiederzuerlangen.
 
Es geht um Macht?

Die Suche nach dem Exotischen mit all seinen Klischees und die Beziehung zwischen der Touristin und ihrem Liebhaber sind sehr eng mit Macht und Geld verknüpft. Wirtschaftliche und soziale Unterschiede machen Missbrauch und Ausbeutung erst möglich. Ich nenne das Rekolonisation: In gewisser Hinsicht rächt sich Europa, das mit seinem Niedergang kämpft und seine Zukunft infrage stellt, für den Verlust ehemaliger Kolonien. Französische Sextouristen fahren nach Vietnam, holländische nach Bali. Körper sind leichter zu bekommen als Territorien.
 
Kann man eine Karte des Sextourismus zeichnen?

Eine solche Karte wäre eng an die Fantasievorstellungen der Kunden, entsprechend der bekannten Klischees gebunden. Alle Frauen – seien sie aus dem Maghreb, aus Asien oder Lateinamerika – tragen bestimmte Klischees, anhand derer sie auf dem Weltmarkt gehandelt werden. Jedoch sind dies nur generelle Tendenzen. Einerseits suchen weiße Touristen auf Kuba oder in Brasilien nach ihrem Bild der lateinamerikanischen Frau, andererseits arbeiten russische Prostituierte in thailändischen Bordellen für chinesische Kundschaft. Die Situation ist heute sehr kompliziert.
 
Warum suchen wir nach der Erfüllung von Stereotypen dieser Art?

Das hängt stark mit dem Verlust von Anhaltspunkten zusammen. Europäische Männer wissen, dass es für sie in Thailand sehr viel leichter als hier ist, eine ergebene und brave Frau zu finden, die nicht zu viele Fragen stellt oder ihre Unabhängigkeit sucht. So sind ihre Vorstellungen. Ein anderes Beispiel sind japanische Frauen, die von ihren Männern vernachlässigt werden und nach Bali reisen, weil die Männer dort zärtlich sind und Zeit für sie haben. Als einfache Regel: Man sucht, was man nicht hat oder nicht mehr finden kann.
 
Woher wissen die Japanerinnen, dass die balinesischen Männer zärtlich sind?

Die Menschen verhalten sich entsprechend ihrer kulturellen Vorurteile. Das trifft übrigens auch auf koloniale Klischees zu, die eng mit unserer Kaufkraft zusammenhängen. So habe ich beispielsweise in Kambodscha – einem sehr armen Land – schon Urlauber getroffen, die ganz ehrlich davon überzeugt waren, mit ihrem Sextourismus Entwicklungshilfe zu leisten. Daneben bereitet mir die fundamental rassistische Natur des Sextourismus große Sorgen. Wie kann jemand eine junge Thailänderin in einem Bordell in Bangkok nach einer Nummer auswählen? Weil sie für ihn kein menschliches Wesen mehr darstellt. Sie ist auf einen niederen Status reduziert.
 
Gibt es organisierten Sextourismus?

In der Tat gibt es Reiseagenturen, die sich auf dieses Gebiet spezialisiert haben, auch wenn sie heute aufgrund strikterer Gesetze vorsichtiger sind. Beispielsweise gab es einen kleinen deutschen Veranstalter, der unter dem Deckmantel der Kultur eine Reise nach Angkor in Kambodscha anbot. Tatsächlich aber befand sich innerhalb der historischen Anlagen ein Bordell. Was meiner Meinung nach heute ein größeres Problem darstellt, ist der zunehmende Massensextourismus. Menschen werden nur aufgrund des großen Angebots zu Sextouristen. Ein Beispiel: Stellen Sie sich einen klassischen Freier in Australien vor. Anstelle zu einer australischen Prostituierten zu gehen, fliegt er nach Bali oder auf die Philippinen, wo er trotz der Flugkosten nur ein Drittel des Preises zahlt. Dieses Problem hängt eng mit dem Nord-Süd-Konflikt zusammen.
 
Könnten Sie das bitte erläutern?

Vergessen Sie nicht, dass es einen großen Unterschied zwischen der reglementierten Prostitution in – typischerweise nördlichen – Industriestaaten und dem Sextourismus in südlichen Entwicklungsländern gibt. Luxusprostituierte im Norden setzen ihren Körper ein, um Geld zu verdienen, er bedeutet Kapital. Bei Prostituierten im Süden und Osten wird der Körper in ihrer Not zur Handelsware reduziert. Daneben gibt es heute aber ein anderes Problem, das ich auch als Heimat-Sextourismus bezeichne. Nehmen wir beispielsweise nigerianische Mädchen, die über Italien, die Schweiz oder Deutschland in das Elsass gebracht werden und sich in einem völlig ländlichen Umfeld wiederfinden, zum Beispiel einem Weingut. Obwohl wir bei uns zumeist von organisiertem Menschenhandel sprechen, geht es eigentlich um klassische Sextourismusstrukturen. Es werden Personen missbraucht, die verletzlich sind und keine angemessenen Mittel zur Verteidigung haben. Ob sie sich in Phnom Penh oder im Elsass befinden, das Problem bleibt dasselbe. Von den 40.000 Prostituierten, die derzeit in Deutschland tätig sind, kommen 70 Prozent aus dem Ausland.

Wie wird sich der Sextourismus in Zukunft entwickeln?

Die Ursache für das Problem des Sextourismus liegt in der sozialen Ungleichheit. Eine kambodschanische Kellnerin, die ich vor drei Monaten traf, arbeitet 14 Stunden am Tag und verdient damit 15 Euro im Monat. Ihre Freundinnen, die sich an die westlichen Touristen verkaufen, verdienen mehr als das innerhalb von zwei Stunden. Wenn in einer Gesellschaft solche sozialen Unterschiede herrschen, kann man Menschen nicht kritisieren, die einfach einen Weg suchen, um zu überleben. Hinzu kommt, dass wir heute einen starken Trend zur Liberalisierung erleben: Alles soll erlaubt sein, Kritik an vermeintlicher Selbstbestimmung wird ungern gesehen. Solange modern sein auch zwingend bedeutet, liberal sein zu müssen, habe ich wenig Hoffnung, dass sich die Situation ändern wird. 
 
Was also kann man tun?

Zunächst denke ich, sollten wir uns vor einer Rückkehr zu einer Moraldebatte hüten. Keine Form der Sexualität ist an sich zu kritisieren. Worauf es ankommt, sind der Respekt und die Achtung. Daher brauchen wir eine Reise- und Sexerziehung, um Missbrauch vorzubeugen und Rassismus zu bekämpfen. Um aber mit einer positiven Bemerkung zu schließen: ich glaube, wenn es etwas gibt, das die derzeitige Entwicklung ändern könnte, ist das die Mischehe. Vielleicht wird es noch 50 Jahre dauern, aber bereits heute kann man sehen, dass sich Kulturen zunehmend vermischen. So könnten wir auch jene Fantasievorstellungen überwinden, die so viele Probleme bereiten.

Das Interview führten Niels Haase und Nikola Richter



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