Als Abubakar Adam Ibrahims Roman über die Affäre einer älteren Frau mit einem jüngeren Mann in Nigeria erschien, gab es einen Eklat. Der Autor rührte damit gleich an mehrere Tabus. Schauplatz ist die Stadt Jos im Norden des Landes, weit entfernt von Lagos. Nicht nur geografisch besteht ein riesiger Abstand zur Metropole, wo sich diverse Lebensmodelle und Kulturen vermischen. Der Norden orientiert sich an Hausa-Traditionen und Werten des Islam, der sich dort bereits vor dem Eindringen der Europäer verbreitet hatte.
Hauptfigur des Buches ist die kluge, gebildete Witwe Binta, die mit Nichte und Enkelin allein in einem Haus ohne Männer lebt. Sowohl der ihr als Mädchen aufgezwungene Ehemann als auch ihr erster Sohn und ihr Neffe kamen gewaltsam zu Tode. Die Frauen sind strengen Regeln unterworfen: Verhüllung, Verhalten, Lebenswege, alles wird von Männern kontrolliert. Ihre Aufgabe ist es, möglichst viele Kinder zu gebären. Sogar Regeln für den Geschlechtsverkehr gibt es. Die Frau darf ihre Lust nicht zeigen. Der Mann soll die Sache rasch erledigen. Doch Binta hat sich trotz ihrer schmerzlichen Vorgeschichte den Eigensinn erhalten. Obwohl sie gläubig ist, will sie den Avancen des Gauners Reza, der erst als Einbrecher in ihr Haus gedrungen ist, nicht widerstehen.
Ihr neuer Liebhaber ist mutterlos, er ist in der Zweitfamilie seines Vaters aufgewachsen und leidet bis heute darunter. Binta selbst fühlt sich am Tod ihres Sohnes schuldig, den sie wegen seines Drogenkonsums aus dem Haus gejagt hatte. Diese Verluste spielen latent in die Liebesbeziehung hinein und lassen inzestuöse Regungen anklingen. Und wo Lust ist, sind auch Scham, schlechtes Gewissen, das Bewusstsein von Sünde nicht weit.
Der Gestank von Kakerlaken gehe jedem Unglück voraus, heißt es
Der Autor schreibt seiner Protagonistin eine Überempfindlichkeit gegenüber Gerüchen zu. Der Gestank von Kakerlaken gehe jedem Unglück voraus, heißt es, und der »unverwechselbare Pesthauch der Sünde« heftet sich, nachdem Binta sich verführen ließ, an ihren Körper. Sie fürchtet die Strafe Gottes und will ihren Liebhaber von seiner kriminellen Karriere abbringen. Die Affäre wird komplizierter, als Bintas Tochter wegen Eheproblemen bei ihr einzieht und ein älterer Verehrer bei der Witwe zu landen versucht. So steuert die spannende Handlung aufs Ende zu, an dem es einen weiteren Todesfall geben wird.
Es sind die Körper der Frauen, die am meisten ertragen müssen. Dass Mädchen mit 13 Jahren zwangsverheiratet und dann schwanger werden, ist im Nordwesten Nigerias bis heute nichts Besonderes, sondern betrifft drei Viertel aller Ehen. Da ihre Körper zu jung für eine Schwangerschaft sind und Geburten nicht professionell betreut werden, erleiden sie dabei oft Verletzungen, die meist unbehandelt bleiben und sie ihr Leben lang plagen. Auch weibliche Genitalverstümmelung ist in Nigeria eine überproportional weit verbreitete Praxis, um Jungfräulichkeit zu garantieren und weibliche Promiskuität zu verhindern. Das ist der Hintergrund, vor dem Ibrahims Roman zu lesen ist, um zu begreifen, an wie viele Tabus er mit der Geschichte einer älteren Witwe rührt, die ihre Sexualität mit dem weitaus jüngeren Liebhaber erst entdeckt und dann genießt.
»Wo wir stolpern und wo wir fallen« schildert aber auch Konflikte und Gewalt, die Nigeria in den vergangenen Jahrzehnten bestimmten, spricht über Traumata, die daraus resultieren und mit denen viele der Betroffenen allein gelassen werden. So möchte die Familie der Nichte Bintas, die die Ermordung ihres Bruders miterleben musste, dem Mädchen wegen ihrer Visionen den Teufel austreiben. Doch dann ist es der muslimische Priester, der von solchen Methoden Abstand nimmt.
Man schaudert und staunt, so etwa darüber, dass ein Goldzahn die Attraktivität von Frauen enorm steigert
Trotz aller Problematiken zeichnet Ibrahim seine Figuren mit leichter Hand, poetisch, liebevoll und sogar mit Humor. Verglichen zu anderen aus Nigeria stammenden Autoren, wie Helon Habila oder Teju Cole, die über den Weg in die USA, wo sie studierten und publizierten, bekannt wurden, agiert Ibrahim von Nigeria aus. Seine Geschichte bleibt unberührt von den Geschmäckern und Interessen europäischer und amerikanischer Verlage. Nordnigerianische Literatur wird normalerweise in der Hausa-Sprache verfasst, die im Süden wenig verbreitet ist. Darum entschied sich Ibrahim bewusst für Englisch, um eine Brücke zwischen dem als hinterwäldlerisch angesehenen Norden und dem Süden zu schaffen. Diese Voraussetzungen erlauben es, den Roman so zu lesen, als würde man ein unbekanntes Land bereisen. Man registriert und überlegt, konstruiert Zusammenhänge, stolpert über Ausdrücke und Verhältnisse, von denen man noch nie gehört hat, man schaudert und staunt, so etwa darüber, dass ein Goldzahn die Attraktivität von Frauen enorm steigert.
Einheimische Leser erkennen lokale Details natürlich sofort. Da der Autor auch als Journalist arbeitet, geraten seine Beschreibungen akkurat und dicht, wie etwa der ständigen Stromausfälle, die alle beeinträchtigen; der korrupten Politiker, die mithilfe von Gangstern den Wahlausgang beeinflussen; der Verachtung für Homosexuelle und Prostituierte; des Gaunermilieus, in dem die Kriminellen sich mit Drogen betäuben und dem Aberglauben anhängen. In einer eindrucksvollen Szene beschreibt Ibrahim das Treiben im Gangsterviertel, dessen Herrscher Bintas Liebhaber ist. Abends taucht ein Schlangenbeschwörer auf, der die Trommel schlägt und singt. Sein Publikum tanzt, der Musiker erzählt von Abenteuern: »Er plauderte über seine Begegnungen mit den leichten Damen aus Eko, den Eselsessern von Ezamgbo, den Marabuts von Agadez, seine Eskapaden mit den Fischern von Busa und seine Zeit in den illegalen Minen von Kebbi.«
Abends taucht ein Schlangenbeschwörer auf, der die Trommel schlägt und singt. Sein Publikum tanzt, der Musiker erzählt von Abenteuern
Spätestens an dieser Stelle begreifen viele europäische Leser, dass sie keine Ahnung von afrikanischer Geografie haben. Gerade so gelingt es noch, Agadez auf der Landkarte zu verorten. Und so ist es mit vielen Details im Roman, der für ein einheimisches Publikum geschrieben ist. Zu verdanken ist das auch Bibi Bakare-Yusuf, die den nigerianischen Verlag Cassava Republic gegründet hat, um eine unabhängige Literaturszene zu schaffen. Sie war es, die das Debüt Ibrahims sowie des nun berühmten Teju Cole erstmals veröffentlichte. Auch die Autorin Lola Shoneyin, deren Roman »Die geheimen Leben der Frauen von Baba Segi« 2014 auf Deutsch erschien, engagiert sich für die junge Literatur Nigerias. Der Erfolg heimischer Autorinnen sollte nicht vom Westen abhängen, ist sie überzeugt. Ibrahims Roman, der kein nach westlichem Geschmack geformtes Bild »Afrikas« liefert, ist also der Anfang einer neuen Bewegung.
Wo wir stolpern und wo wir fallen. Von Abubakar Adam Ibrahim, Residenz Verlag, Salzburg/Wien, 2019.