Was in uns wirkt

von Jenny Friedrich-Freksa

Weniger ist mehr. Über das Wachstum und seine Grenzen (Ausgabe I/2011)


Kurze Begegnungen sind es, von denen Karl-Markus Gauß in seinem jüngsten Buch „Im Wald der Metropolen“ erzählt – aber in allen wird Geschichte zu einer bis in die Gegenwart reichenden Erzählung verwoben. In 13 Kapiteln begibt sich Gauß auf eine Expedition durch Europa, in die Großstädte Belgrad, Istanbul und Wien ebenso wie auf die griechische Insel Patmos, in die Wälder Sloweniens oder zur Abtei Fontevraud im Loire-Tal. Bekannt geworden durch ausgezeichnete Essays und Reportagen, gerne über möglichst abgelegene Orte und Völker, zeigt Gauß immer wieder, dass im Erkunden des Alten die Möglichkeit liegt, das Neue anders zu sehen.

Den Umgang mit Geist und Geisteskrankheit etwa beschreibt er in assoziativen Sprüngen: Am Ende des 19. Jahrhunderts erkennt der Wiener Arzt Ernst von Feuchtersleben, wie die Wahrnehmung seelischer Verstrickungen körperliche Beschwerden heilen kann. „Der Mensch kann nicht immer zu Allem aufgelegt sein, aber er ist immer zu Etwas aufgelegt. Dies thue er.“ Gauß lässt uns Feuchtersleben lesen, schlägt aber gleichzeitig den Bogen zu einer persönlichen Erfahrung: Im französischen Beaune trifft er einen Mann, der sein Gesicht im Krampf zu den fürchterlichsten Grimassen verzieht. Grimassen, die Gauß im Belvedere in Wien wiederfindet, in den grotesken Büsten des Bildhauers Franz Xaver Messerschmidt: „ (...) die Lippen zusammengepresst, dass sich vor Anstrengung noch kurios die Backen blähen (...) Wird in diesen Gesichtern auch nichts gezeigt, was dem anatomisch Möglichen widerspräche, ist es doch das extremistisch Unalltägliche, das sich auf ihnen, mit ihnen ereignet.“ Der Wahnsinn, den die Büsten aus dem 18. Jahrhundert zeigen, ist nicht weit entfernt von den seelischen Abgründen, die der Arzt Feuchtersleben im 19. Jahrhundert in allen Menschen sieht. Dessen Buch wiederum spendet Gauß am Ende des 20. Jahrhunderts in einer apathischen Lebensphase Trost. Der Grimassenschneider, die irren Skulpturen und die psychosomatische Medizin gehen im Rückblick eine Beziehung ein. Sie alle umkreisen die irritierenden inneren und äußeren Erscheinungen des Menschlichen.

Epochenübergreifend spielt Gauß mit der Kulturgeschichte: in ganz Eu-ropa entdeckt er gekreuzte Lebenswege, zwischen Kunstgegenständen, Bauten, Schriften – und Menschen. Sichtbar gemacht wird die kulturelle Wiederkehr dessen, was vor langer Zeit geschaffen wurde und scheinbar verschwand. Wo habe ich das schon mal gesehen?, fragt sich der reisende Autor und spinnt seinen Lesern ein Geflecht aus Orten und Zeiten. Ganz subjektiv wählt Gauß aus, wohin er fährt und womit er sich befasst. Ferne Zeiten sind ihm dabei näher als die jüngere Geschichte. In einer Stadt wie Belgrad, erst kürzlich durch einen Krieg verwundet, wirkt der Fokus auf längst Vergangenes allerdings merkwürdig. Zwar gibt es eine kurze Passage über den Vorabend der Jugoslawienkriege der 1990er-Jahre, auch eine von Nationalisten angegriffene Moschee wird erwähnt.

Das Hauptaugenmerk liegt aber auf Vuk Karadžić, einem 1787 geborenen Philologen und Dichter und auf der Kirche, die Sava, dem Nationalheiligen der Serben, geweiht ist. Ein Kellner erklärt noch, man dürfe die Serben nicht mit Krieg und Nationalismus gleichsetzen. Spätestens an dieser Stelle möchte man wissen, wie einer wie Gauß, der an anderer Stelle so klug durch historische Zusammenhänge führt, auf die offensichtlichen Narben dieser Stadt schaut. Die Deutschen haben im Zweiten Weltkrieg ihre Spuren hinterlassen, die Nato-Bombardements von 1999 die jüngsten Kriegsruinen. Kann man heute nach Belgrad fahren und daran vorbeisehen? Gauß tut es, überhaupt hütet er sich vor „herrschenden Auffassungen“, vor dem, was alle denken.

Interessant ist alles Nicht-Naheliegende, vergessene Menschen längst vergangener Zeiten, unabhängige Denker, Rebellen und Reformer. Gauß zeigt, wie viel reicher die Welt heute dank dieser Nonkonformisten ist. Er erzählt vom belgischen Fürsten Charles de Ligne, den Goethe als „frohesten Menschen des Jahrhunderts“ verehrte, ebenso wie vom polnischen Arzt Lejzer Zamenhof, der das Esperanto erfand, oder von dem im Brünner Spielberg-Gefängnis inhaftierten Alexandre Aryane, der sich sein Blut abzapfte, um schreiben zu können.

Gauß beleuchtet, dass all diese Randgestalten mehr mit uns gemeinsam haben, als wir zunächst glauben, oder, wie es in der Kapuzinergruft in Brünn steht: „Was ihr seid – waren wir, was wir sind – werdet ihr sein.“ Wir Europäer haben Kostbarkeiten geerbt, von denen wir wenig wissen. Gauß, der Schatzsucher, führt uns zu den Menschen, die sie uns vermacht haben, und an die Plätze, wo sie zu finden sind. Man liest sich durch eine unglaubliche Fülle an zivilisatorischen Hinterlassenschaften. Gauß beschreibt sie witzig und pointiert. Glücklichweise steigt er nicht nur in muffige Grüfte oder schmökert in alten Ortschroniken, sondern besucht auch Plätze, die der gemeine Intellektuelle eher meiden würde, wie den „Bierteufel – Haus der hundert Biere“ in Wien. Auch hat er einen Blick dafür, dass die schönsten Männer im heutigen Oppeln die Patres sind – dumm für die Frauen für sie bleiben nur die hässlichen Männer übrig. Vor allem aber erinnert Gauß daran, wie spannend das Vielschichtige ist. Am Ende wird das Buch dann doch politisch aktuell, im Kapitel „Europa – Afrika“, in dem es um die Kolonialgeschichte im Kongo geht. Die einstige Kolonialmacht Belgien ist heute das Land der zerstrittenen Flamen und Wallonen. Und vielleicht, so Gauß, könne dort Frieden einkehren mithilfe eines von Einwanderern gefärbten Französisch oder Flämisch, einer Sprache, die es noch nicht gibt, aber die einmal „Belgisch“ heißen könnte.

Im Wald der Metropolen. Von Karl-Markus Gauß. Paul Zsolnay Verlag, Wien, 2010.



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