„Der Kapitalismus wird netter werden“

ein Interview mit Sulak Sivaraksa

Weniger ist mehr. Über das Wachstum und seine Grenzen (Ausgabe I/2011)


Durch die internationale Finanzkrise werden Fragen nach den Grenzen des wirtschaftlichen Wachstums und nach Verantwortung neu diskutiert. Welche Antworten kann der Buddhismus darauf geben?

Um es ganz direkt zu sagen: Das gegenwärtige Wirtschaftsmodell fördert Gier und Kapital. Mithilfe von Werbung werden Bedürfnisse nach Produkten geschaffen, die die Menschen eigentlich nicht benötigen. Der Konsumismus ist zu einer neuen Art von Religion geworden. Dem Buddhismus zufolge sollte Gier jedoch nicht gefördert werden. Der Buddhismus legt mehr Wert auf Notwendigkeiten.

Das klingt nach einer sehr grundsätzlichen Kritik. Was müsste geändert werden?

Ich bin nicht dafür, den Kapitalismus abzuschaffen. Meine Ansichten können in einen sinnvollen Kapitalismus integriert werden. Das Wichtigste ist: Wir müssen von den Armen lernen, statt sie zu belehren. Als ich einmal beim Präsidenten der Weltbank, Herrn Wolfensen, eingeladen war, fragte er mich, ob wir Buddhisten den Armen helfen könnten. Ich sagte: „Ja, aber man muss ihnen zuhören wollen.“ Bevor Herr Wolfensen das Treffen verließ, bat er eine Gruppe von Ökonomen, mit Armen zu sprechen. Die Ergebnisse wurden dann unter dem Titel „Voices of the Poor“ durch die Weltbank veröffentlicht. Das ist doch enorm.

Und was waren die Hauptresultate?

Alle dachten, dass die Armen sagen: Sie möchten einen Kühlschrank, Wohlstand, reich werden. Es war aber anders. Die Armen wollen Würde. Sie brauchen natürlich ein gewisses Existenzminimum. Sie möchten aber auch ihre eigene Religion ausüben können, ob das nun Christentum, Islam oder Buddhismus ist. Wenn wir von den Armen lernen, können wir viel ändern.

Von den Armen lernen bedeutet also, sich auf die essentiellen Dinge zu konzentrieren ...

Vielleicht haben Sie davon gehört, dass in Bhutan das sogenannte „Bruttosozialglück“ gemessen wird. Wenn man dorthin fährt, merkt man, dass die Menschen dort sehr zufrieden sind, obwohl sie nicht sehr viel haben. Ich möchte diese Menschen nicht romantisieren. Aber in ihren Herzen sind sie reich und sie sind sehr großzügig. Wenn wir lernen, wie sie zu teilen, dann wird sich die Welt ändern. Und der Kapitalismus wird viel netter werden.

Das heißt, zuerst müssen sich die Menschen ändern, damit sich das System ändert?

Jeder Mensch braucht inneren Frieden. Wir müssen auch wieder lernen, bewusst zu atmen. Die meis-te Zeit sind wir damit beschäftigt, zu denken. Und oft konzentriert man sich auf das Auge, vergleicht sich mit anderen und sieht, was sie haben. Man will sie übertrumpfen und ausbeuten. Das kann andere Ethnien, das andere Geschlecht, aber auch Tiere und alle natürlichen Ressourcen betreffen. Man sollte nicht immer darauf schauen, wie man aus allem den größtmöglichen Nutzen erwirtschaften kann.

Was heißt das in einer globalisierten Welt?

Üblicherweise will ein Buddhist meditieren, um ein Mensch voller Liebe zu werden. Aber das reicht in einer komplexen Gesellschaft nicht. Ich sehe mich als Vertreter eines „engagierten Buddhismus“, der Antworten für eine globalisierte Welt sucht. Hier geht es nicht mehr nur darum, dass man nicht stehlen, lügen oder töten soll. Hier geht es um strukturelle Gewalt. Man stiehlt nicht mehr direkt, sondern erlaubt den Banken, zu stehlen. Man tötet nicht direkt, aber man erlaubt den Regierungen, viel Geld für Waffen auszugeben. Der engagierte Buddhismus möchte, dass wir uns selbst, aber auch die Strukturen, wie sie in komplexen Gesellschaften gegeben sind, verändern.

Wie sieht eine ideale globalisierte Welt nach diesen Prinzipien aus?

Viele Menschen im Westen realisieren, dass unbegrenztes Wachstum nicht möglich ist. Wir brauchen Liebe, Mitgefühl und Wahrheit. Viele Politiker lügen, aber auch das ist nicht unbegrenzt möglich. Die Menschen wollen wieder die Wahrheit hören. Wenn wir sie gewaltlos nutzen, dann wird sich die Welt ändern.

Das Interview führte Christine Müller



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