Die Demokratie steckt in einer tiefen Krise. Von allen Seiten erschallt derzeit die Klage über eine sich vertiefende Kluft zwischen Bürgern und Politik. Vom Monolog der Autistenklubs in Berlin, Brüssel oder Washington ist die Rede, von Eliten, die völlig unwillig sind, die Interessen der Bürger ernsthaft zu repräsentieren, und unfähig, für die sich zuspitzenden Zukunftsprobleme tragfähige Lösungskonzepte zu erarbeiten. Die jüngste Welle der Mobilisierung gegen das Bahnhofsprojekt in Stuttgart, gegen den Bau von neuen Kohlekraftwerken oder den Ausstieg aus dem Atomausstieg hat hier ihren Motor: im Aufbegehren der Bürger gegen ihren Ausschluss aus der Politik. Die Krise ist real und die Frage nach Ursachen, Dimensionen und Auswirkungen stellt sich mit höchster Dringlichkeit.
Denn einerseits ist spätestens seit dem gescheiterten Klimagipfel von Kopenhagen, seit dem Offenbarungseid der Politik gegenüber dem internationalen Banken- und Finanzsektor und seit dem ohne Not eingeläuteten Ausstieg aus dem Atom-ausstieg endgültig klar, dass bei den großen Zukunftsfragen die erforderliche Nachhaltigkeitswende ganz sicher nicht von den Politikern und sogenannten Experten zu erwarten ist. Andererseits drängen sich ernsthafte Zweifel auf, ob das Großaufgebot mobilisierter Bürger in Kopenhagen, Stuttgart oder im Wendland wirklich den Wandel zu einer Kultur der Nachhaltigkeit anstoßen könnte, der erforderlich wäre. Was ist bei solchen Protesten für mehr Demokratie eigentlich das Projekt?
Zur Erinnerung: Demokratie war ein Versprechen, eine Hoffnung, eine Perspektive. Demokratie war progressiv. Dazu gehörte neben dem Glauben an das Recht auf politische Selbstbestimmung immer auch das tiefe Vertrauen, dass die Zivilgesellschaft der Sitz der wahren Vernunft sei und daher die Ausweitung zivilgesellschaftlicher Partizipation der aussichtsreichste Weg, die machtversessene Politik, die profitsüchtige Wirtschaft und die risikovergessene Technologie zur Vernunft zu bringen. Dieser demokratische Optimismus ist bedroht. Und die Gründe dafür liegen nicht einfach bei den machthungrigen Politikern. Verschiedene Faktoren spielen hier zusammen. Erstens wird die politische Agenda in immer stärkerem Maße von internationalen Verträgen, unvorhergesehenen Krisen und den Sachzwängen des globalen Wirtschaftssystems bestimmt. Die Politik hat immer weniger Handlungsfreiheit und immer weniger Spielraum, sich im demokratisch-repräsentativen Sinne von den Bürgern bestimmen zu lassen. Stattdessen muss die Politik zugunsten ihrer eigenen Problemlösungsfähigkeit die von den Bürgern vorgetragenen Interessen oft marginalisieren.
Dies gilt besonders dann, wenn es darum geht, die seit Jahrzehnten aufgestauten Nachhaltigkeitsprobleme in den Griff zu bekommen und jene sozialen und ökologischen Kosten wenigstens teilweise zu tragen, die bisher mit Blick auf das Wirtschaftswachstum, die Konsumbedingungen und die Wählerstimmen mit allerlei Kunstgriffen auf spätere Generationen oder andere Regionen abgewälzt wurden. Das verlangt schmerzhafte Einschnitte. Doch für ökologisch ehrliche Lebensmittelpreise etwa oder die konsequente Umstellung von Mobilitätsgewohnheiten nach Nachhaltigkeitskriterien lassen sich kaum demokratische Mehrheiten finden. Nicht einmal Greenpeace oder die Grünen wagen sich ernsthaft in solche Bereiche vor. Die Demokratie eignet sich nämlich wohl zur Verteilung von Zugewinnen, weitaus weniger aber zur Verteilung von Beschränkungen.
Zweitens kann die Politik selbst da, wo internationale Abkommen und unvorhergesehene Handlungszwänge ihr gewisse Spielräume lassen, die immer komplexeren und veränderlicheren Bürgerinteressen einfach nicht mehr abbilden. Die demokratische Repräsentation setzt voraus, dass die Bürger wenigstens halbwegs konsistente und stabile Werte und Interessen artikulieren, die von den Parteien organisiert und von gewählten Volksvertretern repräsentiert werden können. Im Zeitalter der Beschleunigung jedoch, der forcierten Innovation und Flexibilisierung, ist die Gesellschaft – individuell und kollektiv – bemüht, alle Verbindlichkeiten abzuschütteln, um jederzeit möglichst unbelastet reagieren zu können. Umgekehrt bedeutet dies, dass moderne Bürger sich in den demokratischen Institutionen immer weniger wiederfinden. Diese behäbigen Gebilde entsprechen nicht ihrem Selbstverständnis, ihren Bedürfnissen, ihrem Lebensgefühl. Demokratische Verfahren sind aufwendig, langwierig, schwerfällig. Beim Management des eigenen Lebens und im Wettbewerb um sich verknappende gesellschaftliche Ressourcen bietet die Demokratie keine wirkliche Perspektive mehr. Im Gegenteil, sie wird leicht zur Bedrohung.
Wenn Gemeinwohlverpflichtung sich nicht mehr unproblematisch mit persönlicher Selbstverwirklichung in Einklang bringen lässt, zum Beispiel beim Bedürfnis nach regelmäßigen Fernreisen wenn Selbstverantwortung nicht mehr dem Staat abgerungen, sondern den Bürgern aufgezwungen wird, zum Beispiel bei der Eigenvorsorge im Gesundheits- oder Rentenbereich, dann bedeutet Demokratisierung keine emanzipative Erweiterung von Freiheiten und Handlungsmöglichkeiten mehr, sondern vor allem die Zuteilung von neuen Pflichten und Beschränkungen.
So verliert die Demokratie in einer Art postdemokratischen Wende schleichend ihren Glanz. Wir haben es mit einer paradoxen Gleichzeitigkeit von radikalisierten Demokratieerwartungen einerseits und sinkendem Demokratievertrauen andererseits zu tun. Die Bürger – zumindest bestimmte Bürgerschichten – haben an Selbstbewusstsein und Artikulationsfähigkeit gewonnen ihre Ansprüche haben sich deutlich erhöht. Doch was da im demokratischen Gewand daherkommt, hat heimlich seine Qualität verändert. Ist das noch egalitär und progressiv? Zielt das wirklich noch auf eine Umverteilung der Macht von den privilegierten Eliten zu den gleichberechtigten Massen ab? Geht es hier noch um Zukunftsfähigkeit und Nachhaltigkeit? Die Bürgergesellschaft ist nur noch selten der Ort, an dem die radikale Alternative zum herrschenden Wahnsinn gedacht wird. Vielmehr geht es ihr oftmals um die Verteidigung des Status Quo, um den Kampf der verunsicherten Mittelklasse für etablierte Privilegien und Lebensstile, die – nachhaltig oder nicht – unter keinen Umständen zur Diskussion stehen sollen.
Was sich als demokratisch und ökologisch darstellt, droht zum Instrument der Politik der Nichtnachhaltigkeit zu werden. Am sichtbarsten ist dies wohl bei der amerikanischen Tea-Party-Bewegung, die sich im Namen des Volkes und der wahren Demokratie radikal gegen Präsident Obama, gegen jegliche Form von Sozialstaat und gegen die Klimawissenschaft stemmt, die den „American way of life“ grundsätzlich in Frage stellen. Demokratie ist hier kein progressives Projekt mehr, sondern nur noch ein reaktionäres. Hier geht es nicht mehr um soziale und ökologische Nachhaltigkeit, sondern darum, sich auf Kosten einer wachsenden Masse von Ausgeschlossenen ein möglichst großes Stück vom Kuchen der Nichtnachhaltigkeit zu sichern. Nun ist die amerikanische Tea-Party-Bewegung sicher nicht mit den neuen Bürgerbewegungen in Deutschland gleichzusetzen.
Doch auch hierzulande mobilisiert die verängstigte Mittelschicht die Demokratie vor allem zur Verteidigung ihrer eigenen Interessen, während sich die neue Unterschicht zunehmend von der Demokratie abwendet, weil sie in ihr keine Perspektive mehr sieht zur Verwirklichung von Gleichheit, Gerechtigkeit und Integration. So wie sich langsam Zweifel durchsetzen, ob Nachhaltigkeit und Wirtschaftswachstum oder Nachhaltigkeit und Kapitalismus wirklich in Einklang zu bringen sind, werden wir auch das Verhältnis zwischen Nachhaltigkeit und liberaler Demokratie neu überdenken müssen. Tatsächlich besteht kaum noch begründete Hoffnung, dass sich ein radikaler Strukturwandel zu einer Kultur der Nachhaltigkeit auf demokratischem Wege verwirklichen ließe. Richtig bleibt natürlich, dass weder vom Staat noch vom Markt oder den neuen Effizienztechnologien eine Nachhaltigkeitswende zu erwarten ist. Richtig ist auch, dass jede Hoffnung auf autoritäre Lösungsperspektiven unbegründet ist. Aber vor dem Hintergrund der postdemokratischen Wende ist eben auch die Forderung „Mehr Demokratie wagen“ keine überzeugende Perspektive mehr. Das ist die eigentliche Krise der Demokratie und ein Ausweg aus diesem Dilemma ist einstweilen nicht wirklich in Sicht.