Für mein Buch „Solomon Blue“ verschlug es mich 2000 auf eine Urwaldinsel – sie soll hier Panyata heißen – ein paar Hundert Seemeilen östlich von Papua-Neuguinea im Pazifik. Ich saß Panyatas Ältesten gegenüber und sie waren einverstanden, dass ich bleibe und den Bau eines Outrigger-Kanus dokumentiere. Nur hatte gerade niemand ein Kanu, bei dem der Rumpf über eine Plattform mit einem Schwimmer verbunden ist, in Auftrag gegeben. Meine Frage, ob sie eines für mich bauen würden, bejahten sie unter der Voraussetzung, dass ich das Kanu auf traditionelle Weise erwerbe – mit warmen Mahlzeiten aus Fisch und Fleisch, die ich gegen das Kanu und das Können der Männer tausche. Zusätzlich verlangten sie Kautabak, Zigaretten und Betelnüsse.
Ich war einverstanden, nun meinerseits unter der Voraussetzung nicht selbst auf die Jagd gehen und kochen zu müssen, sondern mich ganz der Beobachtung des Kanubaus widmen zu dürfen. Dieser Wunsch löste Unruhe aus: Die Männer fürchteten, ich wolle sie ihrer Tradition gemäß mit frischem Fisch und Wildschwein beköstigen, sie aber waren nur an für sie unerschwinglichem Dosenfisch und Corned Beef interessiert. Auf meine Frage, warum sie nicht lieber die prächtigen Fische vor ihrer Küste und die fetten Wildschweine aus ihrem Dschungel äßen, antworteten sie: „Die kennt ja jeder.“
Die Kanubauer fällten zwei Bäume im Regenwald. Wochen später trugen sie den roh herausgehauenen Rumpf des Kanus und zwei Planken unter Beschwörung ihrer Geister zum Strand. In vier Monaten schufen sie mit Drechseln und Äxten ein hochseetaugliches Meisterwerk. Es wurde der Brautpreis des einzigen wirklich Geschäftstüchtigen auf Panyata. Er hatte mir zwei bereits vorhandene Bootsplanken überlassen, was ihn zum Miteigentümer machte. Obwohl das Kanu nach meiner Abreise seinem Schwiegerclan zufiel, stand jedem, der daran mitgearbeitet hatte, das Recht zu, es zu nutzen, wie auch mir. Denn Besitz verpflichtet auf Panyata zum Teilen und zum Tauschen. Die eigentlichen Werte dieser Gesellschaft sind Kanus, Muschelketten, Steinäxte, Tongefäße und Schweine. Geld war ein fremder Wert. Es ließ sich verdienen, eignete sich dazu, westliche Angebote zu erwerben, aber nicht die seit jeher zu ihrer Kultur gehörenden Dinge. Geld fehlte nach dem Empfinden der Panyati eine mystische, ideelle Bedeutung, die nicht messbar ist.
Einmal fragte ich sie, was es kosten würde, wenn sie mir einen Sichtschutz um mein „Badezimmer“ – einen Eimer mit Regenwasser zwischen Palmen – bauen würden, und war ohne Antwort geblieben. Abends in meiner Hütte sagte die Frau, die für mich kochte und mir klug über die Fettnäpfchen hinweghalf, in die ich trat: „Fragst du einen von uns, was seine Arbeit wert ist, fühlt er sich wie ein Bettler. Wir sprechen nicht über Geld.“ Das Tabu, über Geld zu sprechen, führte zwischen den Kanubauern und mir fast zum Eklat. Ich war davon ausgegangen, das Kanu mit Mahlzeiten und Tabak zu finanzieren. Nach Anspielungen durch Dritte, die ich nicht verstand, half mir die Frau, die für mich kochte, wieder: Ich hatte versäumt, den Kanubauern vor dem letzten Arbeitsgang einen kleinen, üblichen Betrag zu zahlen. Dass er fällig würde, hätten die Ältesten während unserer Verhandlung erwähnt – wegen des Tabus aber nur flüsternd genuschelt. Ein Kanu bauen zu können, verlieh den Männern Panyatas Würde und gab ihrem Leben Sinn. Diese Werte mit Geld zu beziffern, wurde als entwürdigend empfunden.
1990 begann eine Minengesellschaft auf der Nachbarinsel Gold abzubauen und warb dafür auch Männer auf Panyata an. Für diese kulturfremde Arbeit, mit der sie sich nicht identifizierten, akzeptierten sie Geld. Dieses Geld benötigten sie auch, denn nun unterrichteten die seit 1891 auf der Insel ansässigen Missionare in der Schulhütte nur die Kinder, deren Väter bar zahlten. Geld brauchten die Panyati auch für Pflaster und Antibiotika in der Krankenbaracke der Missionare. Und für den Klingelbeutel in der Kirche brauchten sie es auch. Die Kanubauer erzählten: „In der Mine spürt man die Härte der Arbeit doppelt. Das liegt daran, dass eine Uhr und nicht der Körper sprechen darf.“ Sie bemerkten auch: „Ein Kanu zu bauen erfordert viel Kraft, doch die Arbeit macht Spaß und ist zutiefst befriedigend. Sie gibt uns Würde.“ Das Geldverdienen führte zu langen Abwesenheiten von ihren Familien. Auf der Goldinsel stellten drei chinesischstämmige Australier Wellblechbuden außerhalb des abgeschotteten Minencamps für einheimische Arbeiter auf und füllten Regale mit Konserven, Zucker, Waschmittel und Zigaretten, Sturmlampen und Kerosin. Sie verkauften Kleidung aus Altkleidersammlungen aus Europa und Australien, die dem Dresscode der Kirche entsprachen.
In Bereichen, in denen die Panyati durch den Hunger des Westens auf ihre Ressourcen abhängig wurden von Geld – Geld, das sie brauchten, um westliche Einrichtungen und Güter zu bezahlen –, verloren sie ihren bewahrenden Blick auf die Natur. In den Bereichen, in denen sie Selbstversorger blieben, achteten sie wie eh und je bewusst darauf, ihre im Dschungel angelegten Yamsgärten nicht auszulaugen. Die ließen sie alle drei Jahre brachliegen, rodeten dafür anderswo Flecken im Urwald, bis sie auch die wieder überwuchern ließen. Dafür verzichteten die Panyati bewusst auf Bequemlichkeit und nahmen stundenlange Fußmärsche in Kauf.
Die weißen Händler vom Festland forderten immer größere Mengen Muscheln zum Verkauf an Touristen von den Männern Panyatas. Die segelten immer weiter hinaus, weideten den Meeresgrund systematisch danach ab und lebten Wochen unter Plas-tikfetzen auf unbewohnten Inseln, wo sie warteten, bis die lebendig im Sand vergrabenen Muscheln verfault waren und ihre Schale freigaben. Eine Schale brachte ihnen einen halben US-Cent, gemessen am Profit ihrer Auftraggeber nichts. Auf meine Frage, ob sie nicht fürchteten, bald keine mehr zu finden, lächelten sie: „Wir brauchen Schulgeld für unsere Kinder, wir möchten rauchen und manchmal Fisch und Fleisch aus Dosen essen.“ Sie lächelten auch über das schier unstillbare Verlangen der Touristen nach Muscheln. Was war so besonders an ihnen? Unter einer die Welt bedrängenden Ressourcenverknappung konnten sie sich nichts vorstellen. Sie lebten, so lange sie denken konnten, ohne fließendes Wasser und ohne Strom. Zucker, Salz und Dosenfisch waren für sie Luxusartikel. Sie wussten aber, dass die weißen Minenarbeiter davon im Überfluss hatten.
Als ich Panyata im Jahr 2000 verließ, gab es keine Aufträge für den Bau neuer Kanus. Die Männer der Nachbarinseln, Auftraggeber seit Generationen, schafften sich Jollen mit Außenbordmotoren an, subventioniert von weißen Händlern auf dem Festland. Muscheln und Seegurken, von Chinesen begehrt als potenzsteigerndes Nahrungsmittel, gelangten so schneller zu ihnen. Die junge Generation der Inselbewohner fand Gefallen an den schnellen Booten. Eins zu besitzen, galt als Prestige. Doch noch schauten die Jungen nur zu, wie der Geschäftstüchtige Panyatas mit seinem Hartschalenboot durch die Wellen pflügte. Wer mit ihm zur Nachbarinsel fahren wollte, musste zahlen, wer das nicht konnte, den nahm er nicht mit, ganz im Gegensatz zu ihrem Verständnis von Gemeinschaft und Teilen. Dennoch nahmen die Alten das erste Boot mit Außenbordmotor auf Panyata mit der ihnen eigenen Ruhe hin. Auch wenn ihnen die Entwicklung nicht behagte, so wussten sie doch, dass sie Veränderungen nicht aufhalten konnten.
Bezeichnenderweise nannten die Menschen auf Panyata alles Westliche, das auf ihre Insel gelangte, „dimdim-made“. „Dimdims“ waren Weiße. Deren Plastikgüter machten den Inselbewohnern das Leben bequemer, manchmal durch mangelnde Qualität auch armseliger. Fertigkeiten wie das Schnitzen von Werkzeugen erlernten sie nicht mehr selbstverständlich. Die Menschen, von denen ich spreche, sind mir ein unerreichtes Vorbild darin, andere zu respektieren. Innerhalb der straffen Regeln ihrer Tradition ist Respekt vor dem anderen Menschen oberstes Gebot. Sich ungefragt in seine Angelegenheiten einzumischen, ihn gar bevormunden zu wollen, wie wir das für uns in Anspruch nehmen, gehört nicht zu ihrer Kultur. Obwohl ich mich manchmal falsch verhalten habe, wurde ich weder belehrt noch gerügt. Meine Gastgeber gingen wohl davon aus, dass ich, wenn ich nur achtsam bin, von selbst lernen würde. Gilt das nicht für uns alle?