George W. Bush brachte im Mai 2008 die Inder in Rage, als er erklärte, die wachsende indische Mittelklasse sei für die steigenden Getreidepreise auf dem Weltmarkt verantwortlich: „Wer reich wird, verlangt besseres Essen“, behauptete der damalige US-Präsident. Und mit besserem Essen meinte er Fleisch, für dessen Produktion immer mehr Getreide zu Tierfutter statt zu Lebensmitteln verarbeitet wird. Doch die Unterstellung, dass Indien – das Land mit den meisten unterernährten Menschen auf der Welt – schuld an den Getreidepreisen auf dem Weltmarkt sei, ist skandalös.
Zwar nimmt in Indien mit 1,2 Milliarden Menschen, von denen etwa 250 Millionen wachsenden Wohlstand genießen, der Fleischkonsum zu. Allerdings verzehrte ein Durchschnittsinder, wie eine Studie der UN-Organisation für Ernährung und Landwirtschaft (FOA) 2002 feststellte, nur 5,2 Kilogramm Fleisch pro Jahr. Ein US-Amerikaner konsumierte dagegen im Durchschnitt 123 Kilogramm. Vergleichen wir den Gesamtverbrauch beider Länder, zeigt sich, dass die Inder nur auf etwa 17 Prozent des amerikanischen Fleischkonsums kommen. Wer also durch Verzicht auf exzessiven Fleischkonsum zu einer Entspannung auf den Rohstoffmärkten sorgen könnte, liegt auf der Hand.
Essensvorlieben sind in Indien oft das Ergebnis religiöser Gebote. Hindus, die etwa 80 Prozent der Bevölkerung ausmachen, meiden Rindfleisch – aber die unteren Kasten und „kastenlose“ Hindus essen sowohl Rind- als auch Schweinefleisch. Die zwölf Prozent Muslime halten sich von Schweinefleisch fern. Nur zwölf Prozent aller Inder sind strenge Vegetarier: Besonders Bewohner der Küstenregionen schätzen Fisch als billige Proteinquelle, auch Angehörigen der hohen Kaste gilt er als Delikatesse.
Die Ernährungsgewohnheiten ändern sich aber auch in Indien: Mit steigendem Einkommen und Reisen im In- und ins Ausland nimmt der Fleischkonsum zu. Die ältere Generation, die mit strengen Verboten innerhalb patriarchaler Familien aufwuchs, aß Fleisch nur im Restaurant. Junge Leute mit höhrerem Einkommen kennen derlei Bedenken nicht mehr. Seit der Liberalisierung der indischen Wirtschaft 1991 übernehmen junge Leute immer stärker Gewohnheiten aus dem Westen. Gewisse Kreise sind neu zu Wohlstand gelangt. Dazu zählen diejenigen, die in der IT-Branche arbeiten und von denen manche Dollar-Millionäre wurden. Sie reisen geschäftlich oder als Tourist ins Ausland und haben sich angewöhnt, Fleisch zu essen, um nicht als „rückständig“ zu gelten.
Doch der steigende Fleischkonsum bringt zwei Probleme mit sich: Zum einen stammen der Welternährungsorganisation (FOA) zufolge fast ein Fünftel aller Treibhausgas-Emissionen aus der Tierhaltung – das ist mehr, als alle Verkehrsmittel zusammen produzieren. Zum anderen wird ein Großteil des Getreides mittlerweile direkt als Futtermittel für Schlachtvieh angebaut. Getreide ist aber auch das Hauptnahrungsmittel in Indien und wird immer knapper. Das Land leidet unter niedriger landwirtschaftlicher Produktivität, was unter anderem an den kleinen Anbauflächen von durchschnittlich rund einem Hektar pro Familie liegt. Die Umnutzung von Ackerland zur Viehzucht wird schwerwiegende Folgen haben. Laut einer offiziellen Studie der Regierung geben 78 Prozent der Inder täglich umgerechnet 50 US-Cent für das Lebensnotwendige aus. Nahrungsmittel machen den größten Teil hiervon aus. Steigen die Preise, können sich Inder immer weniger Nahrung leisten. Umweltschützer haben aus diesem Grund auch den Trend zur Herstellung von Biokraftstoffen kritisiert, weil dadurch noch mehr Ressourcen für den Lebensmittelanbau abgezogen werden und immer weniger Getreide als Nahrungsmittel zur Verfügung steht.
Bislang hielten viele Inder das Essverhalten der Menschen aus dem Westen für leicht barbarisch, insbesondere die Neigung, Rindfleisch oder Meeresfrüchte wie Austern zu essen. Doch die alten Verhaltensweisen ändern sich rasant: US-amerikanisches Fastfood verbreitet sich wie ein Lauffeuer. Auch die Anzahl japanischer Restaurants – die vermutlich teuersten im Land – wächst. Die indische Gesellschaft wird sich an die neuen Essgewohnheiten ihrer wirtschaftlichen Elite gewöhnen müssen. Dies könnte durchaus auch eine neue Haltung gegenüber anderen Gemeinschaften in Indien mit sich bringen, die zuvor aufgrund ihrer Essgewohnheiten – die nicht der Mehrheit entsprachen – ausgestoßen wurden.
Aus dem Englischen von Claudia Kotte