Wenn Verzicht unmöglich ist

von Adania Shibli

Weniger ist mehr. Über das Wachstum und seine Grenzen (Ausgabe I/2011)


Ich frage mich, was wohl der Kommentar meiner Großmutter wäre, würde ich sie zu den Grenzen des Wachstums befragen und mit dem Slogan „Weniger ist mehr“ konfrontieren. Sie ist vor achtzehn Jahren gestorben, nachdem sie das Osmanische Reich erlebt hatte, dann das britische Mandat, während dessen ihr Mann, also mein Großvater, den Auftrag zur Bepflanzung etlicher Hektar Land mit Zypressen erhielt, und schließlich den Staat Israel, da wurde sie Witwe. Sie machte noch das Ende des Kalten Krieges und sogar den Fall der Berliner Mauer mit, dann starb sie während des Krieges zur Befreiung Kuweits.

Mir scheint, die verschiedenen historischen Epochen mit ihren politischen und ökonomischen Veränderungen und die wechselnden Lebensstile würden sie zu einer Antwort berechtigen. Wenn wir als Kinder mit irgendetwas unzufrieden waren, bekamen wir von unserer Großmutter stets den gleichen Satz zu hören: „Als ich so alt war wie ihr, habe ich Wasser getrunken, das sich in einem Felsloch gesammelt hatte.“ Meine Großmutter würde sich meine Fragen anhören, dann ihren Blick von mir abwenden und ein missbilligendes Knurren verlauten lassen. Mehr an Kommentar erhielte man kaum von ihr.

Tatsächlich ist meine Großmutter nicht die Einzige, die mir auf diese Weise antworten würde. Genauso geht es Millionen von Bewohnern der arabischen Welt, deren Lebensumstände sich nicht wesentlich von denen unterscheiden, die früher das Leben meiner Großmutter bestimmten. Kaum einer hat die Chance, viel mehr zu konsumieren, als sie es tat, das gilt auch für die grundlegenden Bedürfnisse. Auch ich muss mich während meiner Aufenthalte in Palästina damit arrangieren, dass das Wasser im Sommer nur zweimal pro Woche fließt. Also lautet meine Frage im Bezug auf all jene Menschen „Ist weniger als dieses Wenige möglich?“ Denn sie sind nicht in der Lage zu verstehen, was „mehr“ in ihrem Leben bedeuten könnte.

Zwar bin ich keine Wirtschaftsspezialistin, aber man muss nur einmal durch eines der vielen namenlosen Wohngebiete in der arabischen Welt laufen, um zu sehen, unter welchen Umständen die meisten Menschen dort leben müssen. Viele Untersuchungen und Statistiken belegen, dass drei Viertel der Bewohner der arabischen Welt ein Durchschnittseinkommen von zwischen umgerechnet ein bis fünf US-Dollar pro Tag haben. Die Arbeitslosigkeit liegt bei rund 25 Prozent, nicht mitgerechnet die sogenannte versteckte Arbeitslosigkeit, bei der die Menschen Tätigkeiten verrichten, die nicht ihren Fähigkeiten entsprechen und die auch keiner braucht, wie beispielsweise das Koffertragen an Flughäfen oder das Schuheputzen auf Bürgersteigen. Wenn das Thema „Weniger ist mehr“ in der arabischen Welt jemanden angeht, so gehört er zur Minderheit derer, die überhaupt wissen, was „mehr“ bedeutet, und daher die Idee von „weniger“ schätzen könnten. Die Frage ist, ob diese soziale Schicht fähig ist, über so etwas nachzudenken.

Meist besteht diese Schicht aus einer Mischung von Geschäftsleuten der Wirtschaftselite und Freunden der großen Unternehmer einerseits und der regierenden politischen Elite andererseits. Das Bündnis dieser beiden Gruppen, ihre Macht und Stärke, die die Möglichkeiten der Allgemeinheit bei Weitem übersteigen, sei es auf politischer oder wirtschaftlicher Ebene und als Konsumenten sowieso, dieses Bündnis führt nicht nur zu weniger Rohstoffen auf der Erde, sondern auch dazu, dass die Mehrheit in der arabischen Welt weniger bekommt. Weniger Freiheit, weniger menschenwürdiges Leben, was sie wiederum mehr daran denken lässt, wie sie an ihre tägliche Mahlzeit gelangen. Zur Erhaltung des Status quo trägt stark bei, dass die sogenannte öffentliche Meinung von arabischen Medien getragen wird, die sich ganz dem Dienst an diesem politisch-ökonomischen Bündnis verschrieben haben, also denen, die mehr besitzen.

Man findet in der arabischen Welt kaum eine Zeitung, einen Fernseh- oder Radiosender, der nicht versucht, die Interessen der politischen oder der ökonomischen Oberschicht zu vertreten. Beide Schichten versuchen den Bürger zu überzeugen, dass er ohne sie und das, was sie vermarkten, nicht leben kann, sei es ein Politiker oder ein Produkt, regional oder überregional. Auch der Islam wird in den Medien der arabisch-islamischen Diktaturen verpackt und vermarktet, zum Beispiel durch islamische Produkte wie sittsame Bekleidung für Frauen oder die Geldanlage bei islamischen Banken. Oder der Islam wird schlicht als Mittel gepriesen, um in ein Paradies im Jenseits zu gelangen, das den meisten im Diesseits wegen der Armut oder des Elends, das aus der ökonomischen und politischen Unterdrückung resultiert, verwehrt ist.

Die Eliten, ökonomisch oder politisch, religiös oder säkular, wissen nur zu genau, dass sie nicht ohne einander bestehen können und ebenso bedürfen sie für ihre Existenz der direkten Bindung an den globalen Kapitalismus und auch an die Mächte, die ihn repräsentieren, besonders in den beiden vergangenen Jahrzehnten. Das beste Beispiel dafür ist das Bündnis des Westens mit Saudi-Arabien und Ägypten, beide gehören zu den schlimmsten arabischen Diktaturen. Eines der bittersten Beispiele für das Werk dieser Bündnisse, die den Massen nur das Allerwenigs-te gönnen, ist der Anblick der langen Schlangen von Irakern, die wegen der Brennstoffknappheit des Landes für ein paar Liter Benzin anstehen, und dabei verfügt der Irak über die zweitgrößten Erdölreserven der Welt. Nicht anders ist es in Saudi-Arabien, wo die herrschende Schicht, bestehend aus einer einzigen Familie, und ihre Verbündeten alle Ressourcen des Landes für sich beanspruchen, während Tausende Saudi-Araber und ausländische Arbeiter – Letztere dürfen in keinem saudischen Haushalt, ja sogar in keinem Haus im gesamten Golfgebiet fehlen – keine Wahl haben und oft sogar in ihrem Mangel mit dem Überfluß der politischen oder ökonomischen Elite unter einem Dach leben müssen. Es stellt sich die Frage, ob die Mehrheit in der arabischen Welt sich mit weniger zufriedengeben wird?

Tatsächlich hat diese Mehrheit gegenwärtig nicht die Möglichkeit, ein anderes Leben zu wählen, anders als beispielsweise Verbände und soziale Bewegungen, die aus moralischen, ökologischen oder politischen Gründen bereit sind, Abstriche zu machen. Auf der einen Seite steht der Amerikaner aus New Hampshire in Massachusetts, der so wenige Konsumgüter, Wasser und Strom wie möglich verbraucht, obwohl es ihm in seinem täglichen Leben im Überfluss zur Verfügung steht, und der versucht, auf alternative Methoden zurückzugreifen, bei denen weniger Rohstoffe verschwendet werden.

Auf der anderen Seite steht der Palästinenser, der in einem Lager im Gazastreifen wohnt und ebenfalls so wenige Konsumgüter, Wasser und Strom wie möglich in seinem täglichen Leben verbraucht, jedoch wegen des Mangels an diesen Gütern aufgrund des Embargos, das über sein Land verhängt wurde. Beide Individuen ähneln sich in ihrer Genügsamkeit, aber aus völlig unterschiedlichen Beweggründen. Im ersten Fall resultiert das Verhalten aus der Möglichkeit, sich für weniger Konsum zu entscheiden, im zweiten Fall resultiert es aus einer Strafe – was jemanden in dieser Lage zu der Überzeugung bringt, das Ende dieser Strafe sei die Freiheit: Darauf stützt er sich, um seine Menschenwürde zurückzugewinnen, dafür setzt sich tatkräftig die Politik des Nahost-Quartetts unter der Führung von Tony Blair in der Westbank ein.

Wer im Überfluss ertrinkt, darf über das Sein sinnieren, aber nicht nur unter dem Aspekt menschlicher, moralischer und ökologischer Werte, wobei durch den Verzicht auf mehr und durch das Begnügen mit weniger vermieden werden soll, dass es bald nur noch wenig gibt. Es gilt auch zu bedenken, dass „mehr“ gegenwärtig auf dem „Weniger“ für die vielen aufbaut, denen man nicht die Verantwortung für eine drohende Krise geben kann, in der sie nicht die Hauptrolle spielen, und man darf sie ihnen auch nicht als Strafe aufdrängen. Ich glaube, dies ist es, was meine Großmutter mit ihrem Knurren hätte ausdrücken wollen.

Aus dem Arabischen von Stefanie Gsell



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