Über lange Jahre bestimmte eine Figur die Geschichte der Zentralafrikanischen Republik: Jean- Bédel Bokassa. 1954 kehrte er als Offizier der französischen Armee aus dem Indochinakrieg in seine Heimat zurück, die damals noch Ubangi- Schari hieß und unter französischer Verwaltung stand. Der Titel eines Offiziers in einer noch rudimentären Landesarmee verschaffte Jean-Bédel Bokassa das besondere Privileg, gemeinsam mit David Dacko, dem späteren Präsidenten, 1958 bei der Unabhängigkeitserklärung anwesend zu sein. An jenem Tag gab sich das Land den Namen »Zentralafrikanische Republik«. Die endgültige Loslösung von Frankreich erfolgte 1960.
Bokassa strebte unaufhaltsam nach Macht. Schon 1966 putschte er gegen den ersten Präsidenten der Zentralafrikanischen Republik, David Dacko. In der Folge ließ er sich erst zum General der zentralafrikanischen Streitkräfte und anschließend zum Feldmarschall befördern, um sich schließlich 1977 zum Kaiser krönen zu lassen. Diese tragikomische, nach Shakespeare riechende Episode aus dem Jahr 1977 ist nach der Meinung des Westens, wenn nicht der ganzen Welt, eine Geschichte, die – ubuesk, barock und tropisch – als Metapher für ganz »Schwarzafrika « gelten kann. Jener erste zentralafrikanische Kaiser wurde 1979 selbst durch einen Putsch entthront. Nach Jahren des Exils starb Bokassa 1996 in Bangui und hinterließ 17 Frauen und 36 offiziell anerkannte Kinder.
Doch man sollte die Geschichte der Zentralafrikanischen Republik nicht auf Bokassa reduzieren. Einem Zeitgenossen der Weimarer Republik (1918–1933) – einem Robert Musil oder Elias Canetti – wäre es nie in den Sinn gekommen, die Geschichte Deutschlands auf Hitler oder die NSDAP zu reduzieren, ohne auf Bismarck und die Entwicklung eines deutschen Staates aus dem Preußen von Wilhelm I. und Wilhelm II. Bezug zu nehmen.
Der Blick nach Deutschland allerdings taugt auch, um einen früheren Teil der Geschichte Zentralafrikas zu verstehen. Denn der deutsche Kanzler Bismarck saß mit am Tisch, als auf der Berliner Kongokonferenz 1884/1885 die Aufteilung des afrikanischen Kontinents unter den europäischen Mächten beschlossen wurde. Unter deutsche Verwaltung kam ein Gebiet Zentralafrikas, das sich von der Atlantikküste bis zum äußersten Norden des heutigen Kamerun erstreckt, der wegen seiner Form »Entenschnabel« genannt wurde.
Die Deutschen erfanden so das Land »Kamerun «, wie zuerst die Hauptstadt (»Kamerunstadt «, das heutige Duala), dann das ganze Land genannt wurde, und so erklären sich auch die ersten Verträge mit der Signatur »Deutschland- Duala«, welche die deutsche Kolonisierung der Region besiegelten. Ähnlich verhielt es sich mit der französischen Erfindung eines Landes, das ein paar Jahre zuvor schon auf den Namen »Oubangui-Chari« getauft worden war. Durch die Freundschaftsverträge zwischen dem Afrikaforscher Pierre Savorgnan de Brazza und dem kongolesischen König Makoko wurde dieser Erfindung zusätzliches Gewicht verliehen: Die Verträge autorisierten 1882 die Übernahme des neu geschaffenen Landes durch die Kolonialmacht Frankreich, deren Aufgabe es war, »zu verwalten und zu zivilisieren«.
Die geografische Gesellschaft von Paris arrangierte im selben Jahr ein Treffen zwischen Henry Morton Stanley, der offizieller Vertreter des belgischen Königs Leopold II. im Kongo war, und ebenjenem Forscher Pierre Savorgnan de Brazza, der den Kongofluss für Frankreich erschließen sollte. So begegneten sich in der französischen Hauptstadt die beiden Hauptakteure in der Entdeckungsgeschichte der »Donau Afrikas« – ein von Bismarck geprägter Ausdruck, der den Kongo meinte –, dessen Nebenfluss Ubangi schließlich die Grenze zwischen den Kolonien Frankreichs und Belgiens bilden sollte.
Von nun an war man in der Lage, das »Herz Afrikas« auf der Weltkarte zu markieren, das bis dahin von verschiedenen Vorstellungen bevölkert gewesen war. Man hatte dort einst den riesigen, sagenumwobenen See Liba vermutet oder eine trostlose Wüste (etwa Jules Verne in »Fünf Wochen im Ballon«). Die geografischen Gesellschaften hingegen sprachen lieber nüchtern von einer »terra incognita«. Kataloge und Inventare der Afrikanisten begnügten sich noch Anfang und Mitte des 19. Jahrhunderts damit, den Unsinn, den Geografen und arabische Historiker zwischen 11. und 16. Jahrhundert verfassten, mit einem neuen Sinn zu belegen. Der Gegensatz Animalität versus Humanität etwa oder die Theorie der Breiten- und Längengrade, der Meridiane und des Klimas wurden herangezogen, um die angebliche Degeneration der sudanesischen Schwarzen durch die übermäßige Hitze zu erklären.
Doch nun zogen im 19. Jahrhundert deutsche, griechische, französische oder russischstämmige Forscher – Abenteurer ohne Mission und ohne kaiserlichen Auftrag – los, beseelt von dem Wunsch, mehr zu erfahren und dem »Zeitalter der Vernunft« die Realien und Abstrakta des letzten weißen Flecks auf der Karte Afrikas zu erklären. Einer von ihnen, ein Franzose namens Guillaume Lejean, räumte mit der sich hartnäckig behauptenden Vorstellung auf, dass es in der Mitte Afrikas schwarze Kannibalen gäbe. Widerlegt wurde auch der Mythos, dass dort Schwanzmenschen lebten – damit konnten Affen, Gorillas, Schimpansen oder die »Niam-Niam-Krieger« gemeint sein, wie Angehörige der ethnischen Gruppe Azande genannt wurden. Lejean widmete sich als Ethnograf während seiner Suche nach den Nilquellen um das Jahr 1861 diesen vermeintlichen Schwanzmenschen und enthüllte die wahre Natur der Schwänze der »Niam-Niam-Krieger«: Es handelte sich dabei nicht um einen Affenschwanz, sondern einen Schwanz aus Kuhhaut. Es war also ein ästhetisches Objekt, ein Identitätsmerkmal, symbolisch für eine materielle Kultur, die endlich der französischen Öffentlichkeit vorgestellt wurde. »Sorgfältig bearbeitetes Leder, bestückt mit eingearbeiteten kleinen Stiften und Metall mit einem konkaven Wulst in der Mitte und einem fächerförmig auslaufenden Ende (...) Ich hoffe, bei meiner Rückkehr diesen Gegenstand dem Rat der geografischen Gesellschaft von Paris vorlegen zu können «, schrieb Lejean in die Heimat.
In Ubangi-Schari regte sich im 20. Jahrhundert wachsender Widerstand gegen die französischen Kolonialherren. Barthélemy Boganda gilt als Begründer der ubangischen Unabhängigkeitsbewegung. 1940 rief der ehemalige Priester die Bewegung »Mouvement d’évolution sociale de l’Afrique noire« (»Bewegung der sozialen Entwicklung Schwarzafrikas «, MESAN) ins Leben. Boganga verfolgte allerdings nie einen engstirnigen Nationalismus. Sein Credo lautete auf Sango vielmehr: »Zo Kwe Zo« (»ein Mensch ist ein Mensch«). Bogandas Traum war es, mit MESAN eine Föderation aller Ethnien und Nationen Zentralafrikas zu schaffen.
Boganda seinerseits hatte ein großes Vorbild, das ihn inspirierte: Barka Ngainounbaye, alias Karnu, was auf Sango »der, der die Welt verändern kann« bedeutet. Jener Karnu war der Erfinder eines prophetischen Messianismus, der »Gbaya« bezeichnet wurde. Darin verkündete er die Botschaft der Befreiung von dem französischen »Code de l’indigénat«, jener 1875 zuerst in Algerien und zwei Jahre später in allen Kolonien eingeführten Sammlung von Dekreten, die die indigenen Einwohner der Kolonien zu Untertanen machte, ihnen die vollen Rechte französischer Staatsbürger verwehrte und sie zur Zwangsarbeit verpflichtete. Darüber hinaus kämpfte Karnu dafür, die Konzessionen der Koloniallobby aufzuheben, mit denen diese sich den exklusiven Zugriff auf die Produktion von Latex, Kaffee, Elfenbein, Gold und Diamanten gesichert hatte.
Zwischen 1928 und 1931 waren die Anhänger Karnus äußerst aktiv und drangen weit bis zu den Grenzen der Kolonie im Osten vor. Nachdem die Weltöffentlichkeit, die Presse und die Kommunistische Partei Frankreichs von Karnus Kampf erfahren hatten, war das »Land, das es nie gegeben hat« plötzlich existent. Man kann feststellen, dass es in Texten wie denen von Albert Londres, Joseph Kessel, André Gide (»Reise in den Kongo« und »Rückkehr in den Tschad«) oder Louis Ferdinand Céline (»Reise ans Ende der Nacht«) behandelt wird. Romain Gary verdanken wir eine atmosphärische Schilderung der Résistance in Ubangi- Schari und häufige Visiten beim »Rock Hotel«, einem eleganten Treffpunkt der Kolonialgesellschaft und der europäischen Hautevolee.
Wie man sieht, lieferte der letzte weiße Fleck auf der Karte Afrikas der Literatur immer wieder die Kulisse und die Charaktere eines »Themenparks Afrika«. Der französische Journalist Jean-Pierre Tuquoi hat festgestellt, dass im 20. Jahrhundert »das Land, das es nicht gab« sogar für zwei Goncourt-Preisträger Stoff, Kulisse und Sujet lieferte. Zuerst erschien 1921 René Marans Roman »Batouala«, in dem die Hölle der Konzessionen und der für den Bau der Eisenbahn eingeführten Zwangsarbeiten geschildert wird; später folgte George Conchon Roman »L’état sauvage«, der den Horror im Kaiserreich von Bokassa I. und seinen Nachkommen beschrieb.
Aus dem Französischen von Uta Goridis