„Ich repräsentiere nicht Peru“

ein Interview mit Daniel Alarcón

Großbritannien (Ausgabe I/2010)


Sie haben Ende 2009 den Internationalen Literaturpreis des Berliner Hauses der Kulturen der Welt gewonnen. Was verstehen Sie unter globaler Literatur?

Es ist einer dieser Begriffe, die mehr über die Leute verraten, die sie gebrauchen, als über das, was sie angeblich bezeichnen. Jede Literatur strebt danach, Weltliteratur zu sein, egal ob sie in New York, Schanghai, Berlin oder Kapstadt geschrieben wird. Die Kategorie „World Music” etwa findet man in jedem Musikgeschäft. Aber wenn es wirklich Musik aus Afrika oder Lateinamerika ist, dann ist das keine „World Music”, sondern einfach Musik.

Wie fühlt es sich an, schon so früh in eine Schublade gesteckt zu werden – als Repräsentant globaler Literatur?

Darüber mache ich mir überhaupt keine Gedanken. Ich habe eigentlich genug davon, etwas zu respräsentieren. Ich repräsentiere nicht Peru und ich repräsentiere auch nicht Lateinamerika, Lima oder Oakland. Nicht einmal mich selbst repräsentiere ich wirklich. Leider werde ich oft darum gebeten, Lateinamerika für US-Amerikaner zu interpretieren, und in den USA soll ich Peru erklären. Das ist verständlich, weil die Menschen die Welt verstehen möchten. Wenn du aber anfängst, darüber nachzudenken, wie Menschen auf deinen Text reagieren könnten, begrenzt du deine kreative Freiheit.

Die Geschichte Ihres Romans „Lost City Radio” spielt nicht an einem konkreten Ort, stattdessen werden Plätze beschrieben, die theoretisch in verschiedenen Ländern so existieren könnten. Warum haben Sie sich für diesen Zugang entschieden?

Die Orte werden nicht spezifisch bezeichnet, aber spezifisch beschrieben. Ich gebe keinen Ort an, den man auf einer Karte finden könnte, aber ich wollte einen Schauplatz beschreiben, der real wirkt. Jedes Viertel hat einen Namen und die Figuren durchstreifen die Stadt nach einem groben Plan, den ich mir vorher gemacht habe. Es ist also nicht vage, sondern nur nicht definiert. Ich wollte mich nicht auf geografische oder historische Daten festlegen. Das hätte meine Freiheit, zu erfinden, eingeschränkt.

Sie beschreiben die Auswirkungen eines Bürgerkriegs, der sich nicht historisch zuordnen lässt. Darin verliert Ihre Protagonistin den Mann. Hatte Ihre eigene peruanische Familie ähnliche Erlebnisse?

Ja, ich wollte über meinen Onkel Javier schreiben, dem mein Roman auch gewidmet ist. Er ist während des peruanischen Bürgerkriegs „verschwunden“. Bei der Recherche sprach ich mit Leuten, die ihn kannten, Arbeitskollegen und Mitgliedern meiner Familie. Ich las auch viele Bücher über den Konflikt und lebte eine Weile in San Juan de Lurigancho, am Stadtrand von Lima. Einer Gegend, die in den 1980er-Jahren von der Guerilla-Organisation „Leuchtender Pfad” völlig beherrscht wurde. Ich wollte über die Migrationsbewegung dort schreiben und über die Radioshow.

Die Radioshow für Vermisste, bei der Ihre Protagonistin Norma arbeitet, war also keine Erfindung?

Nein, sie existiert wirklich. Auf Spanisch heißt sie „Busca Personas”. Ich war ein großer Fan dieses Programms. Aber ich wollte keinen politischen Roman schreiben. In meinen ers-ten Kurzgeschichten ging es sehr viel um den Krieg. Aber es hat mich überrascht, was während des Schreibens passiert ist, das Thema zwang sich praktisch selbst in die Geschichte.

Gab es auch Stimmen, die sagten: Wie können Sie über den Bürgerkrieg nicht auf Spanisch schreiben?

Ja, manche Leute haben vielleicht so gedacht. Die Menschen, die am meisten gelitten haben, sprachen aber nicht nur Spanisch, sondern auch Quechua. Ich glaube auch nicht, dass es im Spanischen etwas gibt, das zur DNA eines Peruaners spricht und es ihm erlaubt, einen Krieg besser zu erzählen als irgendwer sonst.

Haben die US-Amerikaner immer noch dieses Klischee vom armen Latino?

Ich denke, das verändert sich gerade. Dennoch: Einen Künstler, der einen bestimmten ethnischen Hintergrund hat, hält man automatisch für einen Reporter aus dieser Kultur und als Autoren gelten diejenigen, die der Mehrheit angehören. Wenn Jonathan Safran Foer einen Roman schreibt, dann sagt man: Oh, wie einfallsreich, wie fantasievoll. Natürlich hat Foer viel Fantasie, aber das habe ich auch. Sein Werk beruht wie meines auf realen Vorgängen.

Wie haben Sie diese Erfahrungen literarisch verarbeitet?

Bei meinen Recherchen in Lima habe ich mit einer befreundeten Familie gesprochen. Eines Tages fragten sie mich, was ich studiere, und ich sagte: „Anthropologie.“ Der Vater sagte: „Das ist ja wunderbar, du kannst uns helfen.” Er brachte mir einen Zettel. Darauf waren die Namen von 23 Jungen und Männern, die von der Armee getötet worden waren. Es stellte sich heraus, dass er aus Cangallo in Ayacucho stammte, der Region, die unter dem peruanischen Bürgerkrieg am meisten gelitten hatte. Die Liste in der Hand zu halten, war ein schrecklicher Augenblick. Offenbar hielt mich der Vater für einen Forensiker, dabei war ich absolut nicht in der Lage, ihm zu helfen, ein Massengrab freizulegen. Wenn Norma im Roman auf einen Zettel mit Namen von Vermissten starrt, dann bin ich das. So dringt das wahre Leben in die Fiktion ein.

Das Interview führten Timo Berger und Carmen Eller



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