Keine Frage, Seyran Ateş hat Mut. In ihrem autobiografischen Buch „Große Reise ins Feuer. Die Geschichte einer deutschen Türkin“ (2003) beschreibt sie ihre beengenden Familienverhältnisse in Berlin-Wedding, aus denen sie sich, kaum volljährig, endgültig befreit. Auf die patriarchalischen Rollenmuster reagiert sie mit einem individuellen Aufbruch. Ateş studiert Jura und setzt sich seither für türkische und kurdische Migrantinnen ein. Ständige Drohungen, ein Mordversuch und die vorübergehende Aufgabe ihrer Anwaltstätigkeit aus Sicherheitsgründen sind der Preis, den sie für ihr Engagement zu zahlen hatte. Sie kämpft gegen Kopftuch, Zwangsheirat und „Ehrenmorde“. Gleichzeitig kritisiert sie das in ihren Augen gescheiterte Projekt der Multikulturalität („Der Multikulti-Irrtum“, 2005) und bekannte vor der vergangenen Bundestagswahl, die Grünen wegen deren Haltung in Sachen Integration nicht zu wählen.
Auch in ihrem jüngsten Buch „Der Islam braucht eine sexuelle Revolution. Eine Streitschrift“ benennt Seyran Ateş Tabus, namentlich die fehlende sexuelle Selbstbestimmung muslimischer Frauen. Gerade weil ich die Autorin aus gemeinsamen Hörfunk- und Fernsehdiskussionen kenne, sie sehr schätze und respektiere, fällt es mir nicht leicht, die richtige Balance zu finden. Am liebsten würde ich ihr zurufen: Liebe Seyran Ateş, Sie haben ein wunderbares, notwendiges und wichtiges Buch geschrieben – solange Sie Ihre eigenen Erfahrungen, Erlebnisse und Beobachtungen wiedergeben.
In dem Moment aber, in dem Sie versuchen, die eigene Biografie zu verallgemeinern, sie auf den Islam und die islamische Welt insgesamt zu übertragen, gerät Ihr Buch zum Pamphlet. Gerade eine Streitschrift darf auch kräftig austeilen und grelle Farben auftragen. Das entbindet Sie aber nicht von der Notwendigkeit eines differenzierenden Blicks. „Wenn ich mir die teils schockierten, teils ängstlichen Reaktionen anschaue, mit denen ich konfrontiert bin, seit ich dieses Buch schreibe, dann weiß ich, dass ich ziemlich nah dran bin an dem größten Konflikt, den wir überwinden müssen, um Frieden zwischen Muslimen auf der einen Seite und Christen und Juden auf der anderen Seite zu erreichen. Wir müssen über die sexuelle Selbstbestimmung des Individuums sprechen, also über das Recht von Männern und Frauen, ihre Sexualität unabhängig von ihrer Religion frei entfalten zu können“, schreibt Seyran Ateş (Seite 23).
Sexualität und Religion sind die beiden gro-ßen Tabuthemen in der islamischen Welt. Das heißt aber nicht, dass darüber nicht geredet würde. Über beides wird, ganz im Gegenteil, leidenschaftlich diskutiert – allerdings nicht in aller Öffentlichkeit. Überraschend ist die Auffassung der Autorin, das Thema Sexualität stelle den größten Konflikt zwischen Orient und Okzident dar. Schlichtweg unsinnig ist ihre Wahrnehmung einer Zweiteilung der Welt: Hier die Christen und Juden (aufgeklärt und sexuell emanzipiert), dort die Muslime (mittelalterlich und sexuell repressiv). Zu Recht fordert Seyran Ateş sexuelle Selbstbestimmung unter Muslimen ein. Sie verschenkt allerdings ihre Glaubwürdigkeit, indem sie diese Forderung in den „Kampf der Kulturen“ einfließen lässt und ideologisch überhöht – ganz nach dem Motto: „The west is the best“.
Eine Streitschrift ist keine wissenschaftliche Arbeit. Dennoch ist die Beweisführung der Autorin auch im Kontext einer Generalabrechnung fragwürdig. Ihre Argumente bezieht sie in erster Linie aus Gesprächen mit türkischen und kurdischen Migrantinnen in Deutschland, deren Auswahl offenkundig dem Zufalls-prinzip unterliegt. Ein empirisches Zahlenmaterial jedenfalls legt sie nicht vor. Ob sie mit fünf oder 500 Frauen geredet hat, erfährt der Leser nicht. Die nächste Stufe ihrer Beweisführung sind türkische Autorinnen, Autoren oder Kontakte und Gespräche aus der Türkei selbst. Auch das liest sich authentisch, weil Seyran Ateş den Kontext, den sie beschreibt, aus eigener Anschauung kennt.
Leider weiß sie nur wenig über die arabisch-islamische Welt. Die innerarabischen Debatten zu Fragen der Sexualität, wie sie etwa zwischen Studenten und Dozenten an der Azhar-Universität in Kairo geführt werden, kennt sie nicht. Ich hatte selbst einmal Gelegenheit, an einer solchen Diskussion teilzunehmen, am Goethe-Institut in Kairo. Während hochrangige Theologen der Jugend Enthaltsamkeit außerhalb der Ehe predigten, verlangten die Zuhörer (vergeblich) eine sunnitische Variante der unter Schiiten gestatteten und beliebten „Zeitehe“. Das bedeutet, dass zwei Liebende (aber auch ein Freier und eine Prostituierte) eine Ehe auf Zeit schließen, die fünf Minuten dauern kann oder fünf Jahre, je nach Einvernehmen. Und wenn eine Ehe geschlossen worden sei, dürfe man sie auch vollziehen, so die Logik. Dahinter stehen vor allem wirtschaftliche Erfordernisse: Insbesondere arme Muslime können das hohe Brautgeld nicht aufbringen, das bei einer „Zeitehe“ entfällt.
Seyran Ateş behauptet dagegen, im Arabischen gebe es nicht einmal „eine Bezeichnung für Sex“ (Seite 35). Das ist schlichtweg Blödsinn und hart an der Grenze zum Offenbarungseid. Gerne führt die Autorin Beispiele aus islamischen Staaten an, in denen entweder Anarchie herrscht oder aber ein islamistisches Staatsdogma: Somalia, Afghanistan, Pakistan, Saudi-Arabien. Für den Islam sind diese Länder ähnlich repräsentativ wie die Mormonen und Salt Lake City für das Christentum. Für Seyran Ateş aber wird grundsätzlich der Koran gelebt, sobald einer Muslimin Gewalt zugefügt wird. Folglich schafft sie es mühelos, auf nur einer halben Seite den Bogen zu schlagen von einem dreizehnjährigen Mädchen, das in Somalia vergewaltigt und für diesen Verlust ihrer Unschuld zu Tode gesteinigt wurde, hin zu „Ehrenmorden“ in Deutschland (Seite 57).
Aus ihrer Sicht ist der Islam eine statische, alle Bereiche der Gesellschaft durchdringende Religion totalitären Zuschnitts. Ähnlich wie islamische Fundamentalisten zieht Seyran Ateş als Beleg ausgewählte Koranstellen oder Hadithe des Propheten Mohammed heran, also tatsächliche oder vermeintliche Überlieferungen dessen, was er gesagt oder getan haben soll. Die Vorstellung, dass Offenbarungsschriften grundsätzlich im Geiste der Toleranz (Bergpredigt) oder aber der Intoleranz (Auge um Auge, Zahn um Zahn) gelesen werden können, ist ihr fremd. Einen Unterschied zwischen Religion und ihrer politischen Instrumentalisierung, wie sie in (weiten) Teilen der islamischen Welt prägend ist, macht sie nicht. Auf die Vielschichtigkeit islamischer Lebensformen, vom Volksislam über die Mystik hin zur Orthodoxie, geht sie nicht ein. Die Identitätsprobleme und sozialen Verwerfungen muslimischer Immigranten in Deutschland überträgt sie eins zu eins auf die islamische Welt – und umgekehrt.
Seyran Ateş verschenkt ihr Thema. Richtig, der Islam braucht eine sexuelle Revolution. Und in der Tat sind Frauen in der islamischen Welt rechtlich Menschen zweiter Klasse, vor allem in Saudi-Arabien und im Iran. Aber der Autorin fehlt das analytische Rüstzeug, um ihr Thema vertiefend zu behandeln. Die sexuelle Frage, wenn man sie so nennen mag, ist Teil eines größeren Problems. Der islamischen Welt ist der Übergang zur Moderne noch nicht gelungen. Feudale Lebensformen, Armut, Analphabetentum bestehen parallel zu einem verschwenderischen, vielfach obszönen Reichtum. Demokratie und Rechtsstaatlichkeit fehlen ebenso wie ein aufgeklärtes Denken. Eine offene Kritik an den bestehenden Verhältnissen ist gefährlich. Die Menschen sind deswegen aber nicht dumm. Es gibt in Casa-blanca, Beirut oder Kairo eine sexuelle Freizügigkeit, die Seyran Ateş überraschen würde – und in Istanbul sowieso. Aber das alles findet im Stillen statt, diskret, häufig begleitet von Heuchelei.
In der orientalischen Kultur gilt Gesichtsverlust als unehrenhaft. Eine Frau, die aufträte wie Alice Schwarzer, würde dort eher Mitleid auslösen als Bewunderung. Stattdessen ändern sich, peu à peu, die Lebensverhältnisse. Wenn beispielsweise in Dubai in Kürze vier Frauen erstmals in der islamischen Geschichte zu Muftis ernannt werden, also zu Interpretinnen islamischen Rechts, so ist das eine kleine Revolution. Fast die Hälfte aller Führungspositionen in Wirtschaft und Verwaltung der kleinen Golfstaaten werden mittlerweile von Frauen besetzt. Es ist kaum anzunehmen, dass diese Entwicklung ohne Folgen für die Rechte der Frauen bleibt, einschließlich ihres Rechts auf eine selbstbestimmte Sexualität.
Apropos „Ehrenmorde“ an Musliminnen in Deutschland: Anders als in der deutsch-türkischen Mittelschicht ist die muslimische Frau in der Unterschicht – dort geschehen die meisten „Ehrenmorde“ – das schwächste Glied unter sozialen Verlierern. Sie ist konfrontiert mit Ehrbegriffen, die ihre Wurzeln nicht im Islam haben, sondern in den patriarchalischen Traditionen der ländlichen Türkei. Die Ehefrau, die Mutter, die Tochter, sie haben dem Vater, Bruder, Ehemann zu gehorchen. Tun sie das nicht, versuchen sie ein selbstbestimmtes Leben zu führen, kann es für sie gefährlich werden – bis hin zum „Ehrenmord“. Der Begriff suggeriert, und so versteht ihn auch Seyran Ateş, ein muslimischer Mörder vollstrecke – stellvertretend für alle Gläubigen – die frauenfeindliche Botschaft des Koran.
Seyran Ateş ist neben Necla Kelek die bekannteste Islamkritikerin in Deutschland. (Gibt es eigentlich auch Christen- oder Judentumkritiker?) Beide gelten als Prophetinnen lange geleugneter Wahrheiten: Nur ein vollständig säkularisierter Islam, so ihre Botschaft, sei ein guter Islam, da ansonsten weder mit Europa noch mit der Moderne zu vereinbaren. Nicht die Marginalisierung europäischer Muslime, nicht fehlende Bildung und Aufstiegschancen oder kulturelle Entwurzelung gilt diesen Islamkritikerinnen als Ursache der vielfach gescheiterten Integration, vielmehr der grundsätzlich gewaltbereite, intolerante und fanatisierte Islam. Mit dieser Haltung bedienen sie die Wahrnehmungen und Vorurteile der Mehrheitsgesellschaft, was ihre große mediale und politische Resonanz erklärt.
Unmittelbar nach Veröffentlichung ihres Buches erklärte Seyran Ateş, sie werde vorerst nicht mehr in der Öffentlichkeit auftreten, da sie nicht wie Ayaan Hirsi Ali enden wolle, also im Exil. Ultrakonservative Deutsch-Türken mögen sich von Seyran Ateş’ Streitschrift provoziert fühlen. Gläubige, aber auch agnostische Muslime und Musliminnen, die Islam und Moderne, Tradition und Offenheit zu versöhnen suchen, dürften ihr Buch ignorieren, weil sie die Prämissen nicht teilen.
Es ist eben alles eine Frage der Perspektive. Ein guter Essayist sucht das Allgemeine im Besonderen und umgekehrt. Ein Polemiker sieht nur, was er sehen will, und zieht daraus verallgemeinernde Schlüsse.
Der Islam braucht eine sexuelle Revolution. Eine Streitschrift. Von Seyran Ateş. Ullstein, Berlin, 2009.