Wie war ich?

von Albrecht von Lucke

Großbritannien (Ausgabe I/2010)


Die Wintersaison ist da und damit auch die Zeit der großen Konferenzen und Kongresse. Man muss dabei nicht nur an den Klimagipfel in Kopenhagen denken, wo erneut im Kampf gegen die ökologische Krise viel heiße Luft erzeugt und doch fast nichts bewegt wurde. Nein, es geht auch eine Nummer kleiner. In unzähligen Foren, in Akademien katholischer, evangelischer und gewiss auch islamischer Art wird jetzt wieder landauf, landab argumentiert und diskutiert, was das Zeug hält – bevor zum Ende des kommenden Frühlings die diskursive Sommerpause eintritt.

Also auch auf dem Kongressparkett bloß „business as usual“ – „the same procedure as every year“? Fast, und doch ist seit dieser Bundestagswahl etwas anders geworden. An Bourdieu geschulte Beobachter haben bereits ausgemacht, dass sich der habituelle Dresscode des neuen Personals gravierend verändert hat. Hatten die Schröders, Fischers und Trittins in Brioni und Armani doch stets wie mühsam Angelernte ausgesehen, kann bei den Guttenbergs, Röttgens und Rößlers als der „Generation der guten Anzüge“ und des „gepflegten Schnöseltums“ (Dirk Kurbjuweit) davon nicht die Rede sein. Ihnen scheinen die Anzüge wie von Kindesbeinen an auf den Leib geschneidert. Bei unserem neuen Verteidigungsminis-ter könnten wir es gar mit dem ersten „Dressman im Kampfanzug“ zu tun haben, derweil Sigmar Gabriel noch vergeblich nach dem geeigneten Maßschneider sucht.

Doch was für den Dresscode stimmt, gilt für den Kongresscode nicht minder. Endgültig vorbei die Zeiten, in denen ein halbstarker Joschka Fischer, die Arme stets unter den Achseln (denn das machte einen dicken Bizeps), mit seiner Putztruppe das Frankfurter Audimax und jede Abstimmung dominierte. Endlose Debatten in verräucherten Hörsälen – tempi passati. Bereits der Geist der nebulösen Neuen Mitte der Schröder-Jahre hatte eine andere Diskussionskultur hervorgebracht. Sie wurde beherrscht von jenen Gedanken-Klempnern, neudeutsch: spin doctors, die stets viel zu meinen, aber wenig zu sagen hatten.

Gleichzeitig hat sich die mediale Omnipräsenz der Talkshow auch auf die Kongresskultur ausgewirkt. Statt an universitären Bänken, ausgestattet mit Papier und Schreibgerät, schnell erhitzt und doch stets intellektuell beschlagen Rede und Antwort zu geben, versinken die heutigen Großsprecher in schweren Lederfauteuils, denen weder sie noch kluge Gedanken leicht entkommen, von streitbarer Auseinandersetzung ganz zu schweigen. Im Gegenteil: In aller Regel wandert das Wort einmal die „Diskutanten“ herauf und anschließend wieder herunter, ohne dass es zu einer echten Debatte käme.

Mehr Schein als Sein, nirgendwo wird dies deutlicher als in der Kongressszene der neuen Berliner Republik: Die Zahl der Kongresse zu PR- und Marketing-Themen, auf denen sich die sogenannten Kreativen kreativ gerieren und wo sich wichtige Entscheider – jeder ist heute ja bekanntlich ein AEO, BEO oder zumindest CEO – ganz enorm wichtig tun, ist ins Unermessliche gestiegen. Der alte provokativ-kämpferische 68er-Gestus gehört dagegen endgültig der Geschichte an. Ein neuer Daniel Cohn-Bendit, so rot wie aufgeregt, würde heute unter den geleckt-gegelten Laptopträgern nur noch als Quartalsirrer oder ADS-Kranker wahrgenommen werden. Man meint den Wandel sogar an den studentischen Kongressen und ihren Protestformen zu merken. Was den 68ern ihr Go- oder Sit-In war, ist den Menschen in den 1990er-Jahren der Flashmob. Spontane Aufläufe, mit Handy und Twitter organisiert, so schnell vorbei wie begonnen, ohne weitere Konsequenzen.

Kurzum, es ist vorbei mit der alten Kongress-Herrlichkeit. Man könnte fast den Eindruck gewinnen, dass es in den Zeiten von Bologna und Bachelor eine Selbstverzwergung der wissenschaftlich-politischen Kongresskultur gegeben hat. Während in Berlin „Neue Forschungen zur DDR-Planungsgeschichte“ verhandelt werden, streitet man in Wien über „Bedeutung und Funktion der Habilitation in Österreichs Wissenschaften“. Was aber fehlt, ist die fächerübergreifende politisierende Versammlung aller Disziplinen. Der Eindruck mag täuschen, doch wenn ich mich nicht irre, hat Intellektualität ganz generell ihre Faszination eingebüßt. Oder könnte das Desinteresse schlicht damit zu tun haben, dass die Geistesgrößen früherer Tage zunehmend das Zeitliche segnen?

Dahrendorf gegen Dutschke gegen Bloch gegen Golo Mann gegen Adorno – die Duelle der alten Republik sind Legende. Und wer einmal das Vergnügen hatte, einen der inzwischen auch verstorbenen französischen Großintellektuellen Lyotard, Baudrillard oder Derrida zu erleben, der weiß, dass auch Denker über einen Hofstaat verfügen können. Heute erzeugt in unseren Breiten denn vor allem der ausländische Star noch diese Aura: von Saskia Sassen über Richard Sennett bis Wole Soyinka und Slavoj Žižek. Einzige deutsche Ausnahme: der 80-jährige Habermas, den DIE ZEIT mangels anderer deutscher Bewerber schon zur „Weltmacht“ hochschreiben musste. Insofern scheint der „lange Weg nach Westen“ in der Bundesrepublik intellektuell merkwürdig unterbrochen worden zu sein.

Doch auch wenn der große auratische Vortrag und das folgende dramatische Streitgespräch zunehmend der Vergangenheit angehören: Eines ist bei alledem im internationalen Kongressunwesen gleich geblieben: Posen machen Leute – und zugleich reglementieren sie soziale Hierachien. Distinktion ist alles.

Wer deshalb noch immer dem Kongress-Hopping frönt, dem sei die Vivisektion seiner Umgebung empfohlen: Denn noch immer kann man bei jedem großen Kongress eine spannende Typologie der Teilnehmer zeichnen.

An der Spitze der Hierarchie natürlich die Podiumsteilnehmer – und nur da, denn ins Publikum würden sie sich nie begeben. Meist Macher, also in erster Linie Politiker mit den typischen Insignien der Macht: Bodyguard, Chauffeur und höchst begrenztem Zeitbudget, stets erhellt von Blitzlichtgewitter und ihrer Wichtigkeit gewiss durch die Corona der Fotografen und Kameramänner.

Und nach den Politikern kommt heute, anders als früher, lange, lange nichts. Erst dann die Diskutanten des Typus akademischer Wichtigtuer, Marke Politikberater. Auch dabei handelt es sich um eine neuartige Spezies der Berliner Republik, die eine erstaunliche Multiplizierung von Parteienforschern erlebt hat. Schließlich wollen sämtliche Fernsehkanäle rund um die Uhr beliefert sein.

Die Beschleunigung macht sich denn auch prompt habituell bemerkbar. Hier hat die erste Frau den neuen Ton vorgegeben. Seit Angela Merkel die Republik per SMS regiert, ist das Handy auch auf jedem Kongress ein enorm wichtiges Utensil. Man achte einmal darauf, wer wann sein Handy zückt. Man meint den Grad der Wichtigkeit daran ablesen zu können, wann die erste SMS abgeschickt wurde.

Von seiner gestiegenen Bedeutsamkeit ist natürlich auch der distinguierte Kulturmensch (oder gar, Krone der Schöpfung, Kulturmanager) längst überzeugt. Ausgestattet mit seinen typischen Attributen, iPod und Designerbrille, aber natürlich in unaufdringlicher Eleganz, gibt er sich lässig gleichgültig, immer in der ironisch-distanzierten Pose desjenigen, der allemal weiß, dass die großen kulturkritischen Schlachten geschlagen sind und es bei alledem, ganz postmodern, eigentlich um gar nichts mehr geht.

Schließlich bleibt – als Alter Ego des Podiums – das Publikum. Das sind all jene, die in den Zeiten der Politikverachtung noch immer zu allen Veranstaltungen eilen und doch am liebsten einmal selbst auf dem Podium säßen. Man kennt sie alle nach all den Jahren und ihre typischen Floskeln: „Ich sag einmal …“ „Ich glaube, wir sollten …“ „Man müsste …“ Hier wird doziert, was das Zeug hält, hier werden die Ventile geöffnet, auf dass das eigene kleine Ego ein einziges Mal den Mantel der Geschichte spüren, ein einziges Mal ganz groß herauskommen kann. Und neben alledem ist das Wichtigste bei jedem Kongress natürlich noch immer: die endlose Pause. Dann be-ginnt das eigentliche Schaulaufen, dann mischen sich die Kulturen, stehen die Zuschauer vor den heimlich Verehrten Schlange. Und wenn zuvor das Handy nicht bereits gezogen wurde, jetzt kommt es spätestens zum Einsatz.

Auch wenn die gute alte Diskussionskultur in den letzten Jahren ziemlich den Bach hinuntergegangen ist: Der Kongress tanzte bereits vor bald 200 Jahren er hat sämtliche Kriege und Massenmorde überlebt. Er wird auch dieses und noch viele andere Jahre überstehen. Wenn nicht, ja wenn nicht eines nicht allzu fernen Tages der eigentliche Feind der alten zwischenmenschlichen Öffentlichkeit, nämlich der gemeine User oder, in seiner gefährlicheren Version, der Pirat, den Kongress gleich ganz ins Netz überführt. Vielleicht ist das ja die freibeuterische Geheimagenda des Jahres 2010 – und das wirkliche Ende der einstigen Kongressherrlichkeit.



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