Es fing mit einem scheinbar harmlosen Bild an: Der knapp dreijährige James Bulger verlässt am Nachmittag des 12. Februar 1993 in Begleitung von zwei älteren Jungen das Einkaufszentrum in Bootle, bei Liverpool. Am Abend desselben Tages ist der Junge tot, erschlagen von seinen Entführern, gerade selbst noch Teenager. Das Bild, aufgenommen von einer Überwachungskamera der Shopping Mall, wird wieder und wieder über die Massenmedien verbreitet und von Politikern zitiert. Alle sagen: So etwas darf sich nicht wiederholen. Keiner meint damit: Die Kameras haben zugesehen und nichts verhindert. Im Gegenteil.
Auf einmal gilt Videoüberwachung – im Vereinigten Königreich bekannt als „CCTV“, als Closed Circuit-Television – als Wunderwaffe. Und Großbritannien, das Land mit der ältesten demokratischen Tradition in Europa, installiert in den Folgejahren mehr Überwachungskameras als jedes andere Land der Welt. Schätzungen gehen davon aus, dass gegenwärtig mehr als vier Millionen staatliche und private Kameras im öffentlichen Raum angebracht sind. In der Londoner Innenstadt kann man praktisch keinen Schritt tun, ohne gefilmt zu werden. Noch sind die meis-ten Überwachungssysteme unverbunden. Die Londoner Polizei bemüht sich jedoch, die nicht staatlichen Kameras ebenfalls auf ihre Monitore schalten zu können.
Mittlerweile haben Untersuchungen im Auftrag des britischen Innenministeriums ergeben, dass die Zahl der Straftaten durch Videoüberwachung nur unwesentlich verringert wird, wenn überhaupt. Zwar können Kameras dazu beitragen, Sachbeschädigungen, Schmierereien an Hauswänden oder Autodiebstahl einzudämmen. Geht es jedoch um den Schutz körperlicher Unversehrtheit, um Gewalt gegen Menschen, versagen sie weitgehend. Das gilt ebenfalls für die Verhinderung terroristischer Bombenanschläge. Das Londoner U-Bahn-Netz steht seit Jahrzehnten unter CCTV-Beobachtung. Dennoch konnten Terroristen am 7. Juli 2005 in drei U-Bahn-Zügen Bomben zünden, ein vierter Sprengsatz explodierte in einem Doppeldeckerbus, der ebenfalls mit Überwachungskameras ausgestattet war.
Die Selbstmordattentäter setzen geradezu auf die Macht der Bilder, die ihre Handlungen medial noch verstärkten. Die britische Anti-Terror-Gesetzgebung gibt der Polizei weitgehende Befugnisse, Passanten im öffentlichen Raum anzuhalten und zu durchsuchen („stop and search“). In den vergangenen zwei Jahren wurden mehr als 256.000 Passanten verdachtsunabhängig angehalten und aufgefordert, ihre Taschen zu leeren, darunter der in der Regierung für Anti-Terror-Maßnahmen zuständige Minister. Auf öffentlichen Druck ging die Zahl solcher Durchsuchungen seit Anfang 2009 stark zurück. Nach Angaben eines jüngst vorgelegten Berichts des Innenministeriums führten 0,6 Prozent der Durchsuchungen zu Verhaftungen.
Die wenigsten davon hatten einen Bezug zu Terrorismus. Die britische Polizei hat inzwischen eingeräumt, dass CCTV kaum Gewaltverbrechen verhindert. Graeme Gerrard vom Verband der britischen Polizeiführungen ACPO deutete 2008 in einer parlamentarischen Anhörung an, dass die Öffentlichkeit in diesem Punkt „in die Irre geführt“ worden sein könnte. Mick Neville von der Londoner Polizei spricht im Guardian ganz offen davon, dass sich CCTV, trotz Investitionen in Milliardenhöhe, als „totales Fiasko“ erwiesen habe.
Auch in der nachträglichen Aufarbeitung von Straftaten schneidet Videoüberwachung zurzeit nicht gut ab. Im Januar 2009 veröffentlichte der Daily Telegraph einen internen Polizeibericht, dem zufolge Kameras in einem von tausend Fällen zur Aufklärung einer Straftat beitragen. CCTV ist vor allem deshalb ineffizient, weil es an ausgebildetem Personal fehlt, um die täglich anfallende Bilderflut auszuwerten. Dazu kommt, dass viele der Kamerasysteme heute technisch veraltet sind. Immer wieder muss sich die Polizei mit unleserlichen, verschwommenen Bildern auseinandersetzen, auf denen weder Handlung noch Gesichter der Täter eindeutig zu erkennen sind.
Auch verfügen nur wenige britische Gerichte über Abspielgeräte für Beweisvideos. Hinter solch selbstkritischen Einsichten steckt freilich Kalkül: Die Regierung soll überzeugt werden, neue Gelder zur Aufrüstung der Systeme zur Verfügung zu stellen und die Öffentlichkeit auf die Einführung neuer Maßnahmen eingestimmt werden.
Von der Notwendigkeit der Kameras brauchen die Briten dabei nicht mehr überzeugt zu werden. In einer Umfrage aus dem Jahr 2002 gaben rund 80 Prozent an, einverstanden oder „happy“ mit CCTV zu sein. Allerdings merkt dieselbe Studie an, dass die meisten der Befragten „deutlich überzogene Erwartungen an die Leistungsfähigkeit von Videoüberwachung“ hatten. Zudem sollte diese Zahl vor dem Hintergrund einer anderen Statistik gelesen werden: 76 Prozent der Befragten einer jüngeren Erhebung gaben an, „sehr oder ziemlich besorgt“ über den Schutz ihrer persönlichen Daten zu sein.