Lange Zeit hat man im Westen die Augen vor radikalislamischen Gruppen verschlossen, die sich auf dem eigenen westlichen Territorium befanden. Noch nach dem 11. September nahmen westliche Regierungen zumeist an, die terroristische Bedrohung gehe von Moslems aus, die, selbstredend, jenseits der eigenen Grenzen lebten. Woraufhin allgemein die Einreise- und Immigrationsregelungen verschärft wurden. Großbritannien hingegen – von jeher ein Land, das stolz darauf war, politischen Flüchtlingen Asyl zu bieten – hielt an den bestehenden Regelungen fest.
Infolgedessen wurde Großbritannien zu einem Drehkreuz für muslimische Fanatiker, ehemalige Mudschaheddin-Krieger aus Afghanistan und Bosnien und andere radikale Bewegungen, die in ihren Ländern längst nicht mehr willkommen waren. Diese tolerante und offene Haltung sollte sich nach den Anschlägen vom 7. Juli 2005 in London entscheidend verändern. Die Selbstmordattentäter waren Briten, im Vereinigten Königreich geboren und aufgezogen.
Durch die Anschläge wurde der Öffentlichkeit schlagartig klar, dass die Gefahr auch im eigenen Land lag. Niemand war nach dem blutigen Attentat in Madrid im Jahr zuvor und angesichts des britischen Militäreinsatzes im Irak wirklich überrascht, dass London in das Visier des Terrorismus gerückt war. Dagegen löste der Umstand, dass die Attentäter bislang ein „ganz normales“ Leben geführt hatten, bei vielen Bürgern Panik aus. Die Attentäter waren ein Beispiel gelungener Integration. Sie hatten verhältnismäßig gute Jobs, lebten in stabilen Familienverhältnissen und waren in die Gemeinschaft eingebunden. Dies wurde umso deutlicher, als das „Märtyrer“-Video von Mohammed Siddique Khan, dem Kopf der Gruppe, auftauchte und ganz Großbritannien den vertrauten breiten Yorkshire-Akzent des Attentäters hören konnte.
Die neue Gefahr dieses „home-grown terrorism“ beunruhigte nicht nur die britische Öffentlichkeit, sondern auch jene westlichen Staaten, in denen britische Bürger Freizügigkeit genossen. Dies galt besonders für die USA, nachdem eine Gruppe junger britischer Moslems im August 2006 bei dem Vorhaben gefasst wurde, mehrere Flugzeuge auf ihrem Weg in die USA und nach Kanada mit Flüssigsprengstoff in die Luft zu jagen.
Beides, die Anschläge in London ebenso wie der verhinderte Anschlag auf die Transatlantikflüge, war ein schwerer Rückschlag für die muslimische Bevölkerung Großbritanniens: Erneut fanden sie sich in einer Situation, die sie aus den vergangenen Jahrzehnten zur Genüge kannten und überwunden glaubten – sie galten als Fremde. Sie gerieten unter Generalverdacht, wurden verstärkt von den Geheimdiensten observiert und sahen sich einer wachsenden Islamophobie ausgesetzt. Der „Erfolg“ eines multikulturellen Großbritannien wurde von einer heftigen Debatte über die Frage „Was ist britisch?“ herausgefordert.
Die angeblich zu laschen Einreisebestimmungen gerieten in die Kritik und wurden schließlich verschärft. Die Radikalisierung junger Muslims – so gering ihr Anteil gemessen an der Mehrheit auch war – verstärk-te die Meinung, dass der Islam und dessen Werte mit dem Gedanken eines friedlichen Zusammenlebens oder gar der Integration in die westliche Gesellschaft unvereinbar seien. Dennoch kann man Stimmen, die den „Tod des Multikulturalismus“ beschwören, durch einen Blick auf die Lebenswirklichkeit der meisten Muslims im Lande widerlegen: Diese führen in Großbritannien weiterhin unvermindert ein „normales“ Leben inmitten anderer religiöser und ethnische Gruppen und sorgen sich mehr um Jobs, Gesundheitsvorsorge und Kriminalität als über Terroristen aus ihrer Mitte.
Auch wenn de facto kein „typisches“ Profil des „home-grown terrorist“ nachweisbar war, existierte in den Köpfen der Menschen ein oberflächliches Stereotyp: das des wütenden, dunkelhäutigen Mannes mit Vollbart. Dieses Stereotyp wurde im Anschluss an die Londoner Attentate auf Muslims und alle anderen, die man für Muslims hielt, übertragen. Besonders Sikhs, die ebenfalls Turban und lange Bärte tragen, hatten unter dieser Verwechslung zu leiden. Viele Sikhs berichteten nach den Londoner Attentaten von verbalen, aber auch körperlichen Angriffen aufgrund solcher Verwechslungen. Die britische Polizei ging so weit, in der Londoner U-Bahn-Haltestelle Stockwell den dunkelhäutigen Brasilianer Jean Charles de Menezes zu erschießen, weil sie ihn für einen Selbstmordattentäter auf dem Weg zu einem weiteren Anschlag hielt.
Im Zuge dessen geriet das Klischee, wie ein Terrorist auszusehen habe, ins Wanken. Spätestens als sich Nick Reilly – ein junger weißer, an Autismus leidender Brite, der zum Islam übergetreten war – 2008 in einem beliebten Restaurant in der Innenstadt von Exeter in die Luft sprengen wollte. In diesem Moment wurde klar, dass die Kategorie „home-grown terrorist“ ungeeignet war, die ebenso vielfältige wie vage Bedrohung zu beschreiben, der sich Großbritannien durch den Terrorismus ausgesetzt sah.
Trotzdem ist das Stereotyp des dunkelhäutigen, wütenden Mannes mit Vollbart mittlerweile ein Teil der Populärkultur Großbritanniens geworden. Es taucht in Romanen, in Kino- und Fernsehfilmen auf, genauso wie in Nachrichten und Reportagen. Diese Kunstfigur, die häufig als naiver junger Mann dargestellt wird, der seine Freizeit im Internet verbringt und dessen Wut (und sexuelle Frustration) von menschenverachtenden Predigern in Gewalt umgelenkt wird, findet ihre Wurzel in islamophoben Tendenzen und Zerrbildern, die aus einer postkolonialen Vergangenheit weit vor dem 11. September 2001 stammen. Es ist anzunehmen, dass einige Maßnahmen der Regierung diese Gefühle unbewusst noch intensiviert haben.
Die sichtbar verstärkte Überwachung im öffentlichen Raum ebenso wie zunehmende Abhöraktionen erwecken bei vielen Muslims in Großbritannien den Eindruck, dass die Unschuldsvermutung einer dubiosen und diskriminierenden Sicherheitspolitik geopfert wurde. Es lässt sich vermuten, dass dieses Klima der Verdächtigungen zu der aktuellen Revitalisierung der rechtsnationalen Szene geführt hat, wie sie sich im Fall der English Defence League (EDL) und anderen Gruppierungen zeigt, deren Gewalt von einer nationalistischen und rassistischen Rhetorik getragen wird. Daran anknüpfend wäre es konsequent, das Verständnis, was unter einem „home-grown terrorist“ zu verstehen sei, auf all jene auszuweiten, die demokratisches Handeln durch Gewalt ersetzen. Ob es Rassisten, Tier- oder Umweltschützer, Abtreibungsgegner oder jene sind, die sich für Benzinpreissenkungen einsetzen – die Gründe sind irrelevant. Terrorismus wird durch die Wahl der Mittel definiert.
Politikern in Großbritannien ist bewusst, dass Radikalisierung und Terrorismus in Verbindung mit vielen Ideologien und Gründen möglich sind – unabhängig von Nationalität und Religion. Für alle – Politiker, Journalisten und Bürger in Großbritannien – liegt nun die Herausforderung darin, zwischen dem antiislamischen Stereotyp des „home-grown terrorist“ und anderen, weniger klar fassbaren Gruppierungen zu unterscheiden, die terroristische Gewalt aus politischen, religiösen oder nihilistischen Gründen einsetzen könnten. Während das Stereotyp seine Wurzeln in der postkolonialen Vergangenheit des Landes und den daraus resultierenden, noch immer ungelösten Problemen hat – in Großbritannien fasst man dies unter die Schlagworte Migration, Rasse, Ethnizität –, findet sich die wirkliche Gefahr an einer anderen Stelle.
Sie ist Teil einer „dunklen“ Seite der Globalisierung. Dunkel, weil sie abseits des bisherigen Wahrnehmungsmusters liegt. Und auch deshalb dunkel, weil die Kommunikationstechnologie allen Beteiligten im wörtlichen Sinne „grenzenlose“ Möglichkeiten bietet, sich zu vernetzen und Attentate zu koordinieren. Terror speist sich aus vielen Wurzeln und über viele Wege. Wenn es der britischen Regierung und den beteiligten Sicherheitskräften gelänge, diese Wirklichkeit darzustellen – und sie den Bürgern zutrauen würden, diese zu verstehen –, dann könnte es gelingen, das Stereotyp zu entkräften und von den damit verbundenen Vorurteilen abzurücken. Dies wäre zumindest eine Chance, der Radikalisierung britischer Muslime vorzubeugen.
Aus dem Englischen von Angela Dreßler