Einseitiges Türkeibild auflösen

von Zeynep Kuban

Das neue Italien (Ausgabe III/2016)


Die Politik und die internationalen Kulturbeziehungen sind, um es türkisch auszudrücken, durch eine Nabelschnur miteinander verbunden, und dennoch unterscheiden sie sich voneinander: Die Staatsmänner und -frauen vereinbaren etwas, weil es den politischen Gegebenheiten zufolge so sein muss, meistens, weil wirtschaftliche Interessen dahinterstecken. Als Nebenprodukt dieser Beziehungen entstehen dann kulturellen Programme. Aus diesem Grund sind die Kulturbeziehungen in politischen Krisenzeiten auch am ehesten gefährdet; man kann sie als ein politisches Zeichen problemlos abbrechen, weil dies wirtschaftlich keine direkten Vor- oder Nachteile bringt.

Wegen der politischen Spannungen zwischen Wien und Ankara haben die türkischen Behörden beispielsweise Anfang September die Genehmigungen für österreichische archäologische Grabungen in der Türkei zurückgezogen. Die Jean Monnet-Stipendien der Europäischen Union, durch die junge Türken mit Hilfe von Studienprogrammen die EU kennenlernen konnten, hat die Türkei für das Jahr 2016/17 ausgesetzt. Es kann aber nicht die Essenz des Kulturaustauschs sein, diesen von der Sympathie oder Antipathie gegenüber einer gegenwärtigen Regierung eines Landes abhängig zu machen. Das gilt für die Türkei gegenüber der Europäischen Union und ihren Mitgliedstaaten und umgekehrt.

Präsident Recep Tayyip Erdogan und seine Anhänger gehören genauso zur Kultur der Türkei wie diejenigen, die ihn nicht unterstützen. Die türkische Außenpolitik war lange darauf ausgerichtet, das Land mit einem westlichen, „zivilisierten“ Gesicht zu präsentieren. Und genau dieses Gesicht ist es, das man in Europa auch sehen möchte. Aber die Realität hat eben mehrere Gesichter. Gerade diese bisherige Einseitigkeit ist wohl ein Grund für das Erstaunen im Westen über die jetzigen Geschehnisse in der Türkei.

Kulturelle sowie politische und wirtschaftliche Beziehungen hängen zwar miteinander zusammen, aber sie funktionieren ganz anders. Die Politik mag einen Wink oder Geld geben, damit mit dem einen oder anderen Land kulturelle Beziehungen aufgebaut werden. Aber die Nachhaltigkeit hängt vom Engagement der Beteiligten ab. Ich habe durch persönliche Kontakte gelernt, mit politisch komplett andersgesinnten Menschen Beziehungen beizubehalten und auch daraus etwas Kreatives zu gestalten. Ich bin in Europa kulturell sehr engagierten Menschen begegnet, die mit ihrer kolonialen Weltsicht und Vorurteilen gegenüber dem Islam eigentlich ins 19. Jahrhundert gehörten. Aber ich wende mich heute nicht mehr entsetzt ab, versuche auch nicht mehr vehement, diese Menschen von etwas anderem zu überzeugen, denn dies funktioniert in den seltensten Fällen mit Argumenten, sondern durch Erfahrungen.

Bei uns in der Türkei verhält es sich mit Vorurteilen nicht anders. Wenn mir bestens ausgebildete Kollegen an der Universität erst erzählen, wie kalt und unfreundlich die Deutschen sind, um dann nach einer gemeinsamen Konferenz freudig zu betonen, wie nett doch eigentlich die deutschen Partner gewesen seien, kann ich nur schmunzeln. Auch das akademische Austauschprogramm Erasmus hat erfolgreich dazu beigetragen, die Künstlichkeit von Grenzen und die Gleichwertigkeit von Kulturen deutlich zum Vorschein zu bringen. Die Studierenden lernen, wie man als ein kulturelles Individuum mit internationaler Vielfalt und unterschiedlichen Meinungen umgeht. Das Erasmus-Programm ist eine der wenigen Möglichkeiten für türkische Studierende, sich ohne Probleme und Vorurteile in einer fremden Gruppe europäischer Studenten auf menschlicher, kultureller und akademischer Ebene einzubringen. Das gilt es zu erhalten.

In meiner Studienzeit in den 1980er-Jahren gab es diesen Austausch noch nicht. Ich habe Anfang der 1990er-Jahre durch ein Stipendium des Deutschen Akademischen Austauschdiensts in Tübingen die Vorzüge binationaler Kulturbeziehungen kennengelernt. Dadurch wurden viele Kontakte, Freundschaften und akademische Kooperationen aufgebaut. Wir haben gelernt, ohne Arroganz einander auf Augenhöhe zu begegnen, um gemeinsam an Projekten und Träumen zu basteln.

Ich wünschte mir, dass ich wie die Siebenschläfer in Ephesos dann aufwachen könnte, wenn die Kulturpolitik ihre Nabelschnur vom Weltgeschehen abgeschnitten hat und die Hypothek schlechter Innen- und Außenpolitik nicht mehr auf den internationalen kulturellen Beziehungen lastet. Dann könnte man sich wieder an den eigentlichen Sinn und Zweck dieser Beziehungen erinnern.



Ähnliche Artikel

Was vom Krieg übrig bleibt (Pressespiegel)

Türkei-Bericht der EU

Die EU präsentierte im November einen Bericht über die Reformfortschritte der Türkei im Hinblick auf ihren Beitritt zur EU

mehr


Toleranz und ihre Grenzen (Bücher)

Dialog über das Mittelmeer

von Werner Ruf

Eine gemeinsame Außenkulturpolitik der Europäischen Union existiert offiziell nicht, doch die kulturellen Aktivitäten im Rahmen der Euro-Mediterranen Partnerschaft entsprechen ihr de facto. Isabel Schäfer hat sie untersucht

mehr


Was vom Krieg übrig bleibt (Kulturprogramme)

Asien im Biennalefieber

von Ursula Zeller

Das Ausstellungsformat der Biennale erlebt einen ungeheuren Boom – das ursprünglich westeuropäische Projekt entwickelt sich zum Exportschlager in Asien

mehr


Kauf ich. Ein Heft über Konsum (Thema: Konsum)

Zwischen Anstand und Glamour

von Aksu Akçaoğlu

Die konservative Mittelschicht in der Türkei versöhnt sich mit der westlichen Shoppingkultur

mehr


Heiße Zeiten. Wie uns das Klima verändert (Bücher)

Medienpolitik

von Gudrun Czekalla

Europa ist in erster Linie ein Kommunikationsraum, in den der Fernsehsender Arte integriert ist und für den es sein Programm gestaltet, so die Ausgangsthese der...

mehr


Freie Zeit. Was Menschen tun, wenn sie nichts zu tun haben (Forum)

Gut aufgehoben

von Umberto Eco

Museen sind unersättlich: Sie dokumentieren die Sammelwütigkeit der Menschheit

mehr