Hart am Wind

von Doris Akrap

Ich und alle anderen (Ausgabe IV/2016)


Wenn Schriftsteller an Orte der Verwüstung, der Gewalt oder des Elends reisen, hofft man, dass sie zurückkommen und etwas Besonderes zu erzählen haben. Man hofft, dass ihnen der Wind Dinge zuträgt, die andere übersehen und überhören. Man hofft, dass ihre Worte das Böse, Hässliche und Unbegreifliche einfangen und einfrieren können, auf dass es für immer verschwinde. Der slowenische Dichter Aleš Šteger hat diese Herausforderung angenommen.

Seit 2012 fährt der 43-Jährige jedes Jahr an einen Ort irgendwo auf der Welt, hält sich dort zwölf Stunden in einem öffentlichen Raum auf und schreibt einen Text. Diesen schickt er an seinen Verleger, der ihn innerhalb von 24 Stunden als kleines Buch drucken lässt. Einmal abgeschickt, kann Šteger den Text nicht mehr verändern. Er bleibt so, wie er ist. Nun liegen die ersten vier Texte dieses Projektes erstmals auf Deutsch vor, gebündelt im „Logbuch der Gegenwart“. Der Begriff „Logbuch“ ist Programm, denn wie beim offiziellen Protokoll einer Schiffsreise darf nichts verändert werden. Und sollte es doch notwendig sein, dann muss Ursprüngliches und Geändertes unbedingt nachvollziehbar bleiben, damit man später die Ursachen des Schiffbruchs rekonstruieren kann. So sitzt Šteger im Schaufenster eines Kaufhauses in Ljubljana, vor dem gegen die Regierung demonstriert wird, in einer Bibliothek in Minamisoma, in der Nähe von Fukushima, und in einem Belgrader Park, in dem Flüchtlinge ausharren. Er will kein Hemingway sein. Es geht ihm nicht um Berichterstattung. Er begreift sein Projekt als eine „Übung im Wachsein“. Er versucht, Fehlverhalten und Fehlinterpretationen herauszuarbeiten, die zu den gesellschaftlichen Havarien unserer Zeit führen. Er macht das mit den Mitteln einer Sprache, die unmittelbar durch das Beobachten entsteht, und muss sich dafür immer wieder den Kopf vom Fahrtwind durchpusten lassen, da kein Kopf einfach so mit sich allein ist. „Es ist der erste Wind, der einem ins Gesicht bläst und das Schreiben inspiriert“, sagt er.

Ob Weihnachtsmusik im Kaufhaus oder Leute mit Mundschutz in der Bibliothek von Minamisoma – was seine Gedanken stört und verstört, wird zum Hilfsmittel schonungsloser Introspektion. So sieht er in Ljubljana aus dem Fenster einen fliegenden Buchhändler, der ihm seit Jahren immer wieder versucht, ein Buch zu verkaufen, das er nicht haben will. Er nennt diesen Mann „Landei“, findet ihn unangenehm. Aber vielleicht, schreibt Šteger, sind es genau Typen wie er, die dafür gesorgt haben, dass die von gerade mal zwei Millionen Menschen gesprochene slowenische Sprache überlebt hat. Nicht kluge Dichter, sondern stoische und grobe Figuren wie dieser Parkplatzhändler, der gegen alle Vernunft an seinem Vorhaben, das Buch zu verkaufen, festhält.

„Es gibt keine Sprache in diesem Staub. Es gibt nur das stille Warten“, schreibt Šteger in Belgrad, im August 2015, als dort Tausende Flüchtlinge auf dem Bahnhofsvorplatz auf den Anruf eines Schleppers warten, der sie nach „Germanygreatbritainfrance“ bringen soll. Die Flüchtlinge reden nicht. Sie warten. Was sollen sie uns auch sagen, wenn der Park, in dem sie sich wochenlang aufhalten, im Müll versinkt, während die Straßen um den Park herum gereinigt werden. „Es ist offensichtlich“, schreibt Šteger, „dass klare Grenzen zwischen uns und ihnen aufrechterhalten werden müssen – zwischen uns, die hier leben, und ihnen, die kein Zuhause haben, die gleich Grenze zwischen den Lebenden und den Toten wie zwischen Gut und Böse.“ Šteger selbst stammt aus einem Land, das so klein ist, dass man alle paar Kilometer auf eine Landesgrenze trifft und das selbst eine Grenze markiert: Slowenien ist eine Schnittstelle europäischer Geschichte, zwischen k.u.k.-Monarchie und Balkan, zwischen Christentum und Islam.

Vielleicht hat seine Herkunft Štegers Wachheit und Gespür für das Einengende und Ausgrenzende befördert. „Was genau ist ein literarischer Text, wenn er nicht den Ort und die Zeit seiner Entstehung in sich trägt?“, fragt er. Der Autor hat die sicheren Grenzen seines Schreibtischs verlassen, sich dem Ungewissen, der Unruhe, der dauernden Möglichkeit, unterbrochen zu werden, ausgesetzt und das Scheitern riskiert. Gescheitert ist er aber nicht. Sein „Logbuch“ schafft es, uns den kalten Wind fühlen zu lassen, der uns von den diversen Eisbergen anweht, auf die wir während unserer gemeinsamen Schiffsreise derzeit zusteuern.

Logbuch der Gegenwart. Taumeln. Von Aleš Šteger. Aus dem Slowenischen von Matthias Göritz. Haymon Verlag, Innsbruck, 2016.



Ähnliche Artikel

Selbermachen (Thema: Selbermachen)

In der kulturellen Kampfzone

von Justin McGuirk

Zwischen perfekter Handarbeit und plumpem Do-it-yourself: unsere Vorstellungen von Selbstgemachtem sind weitgefächert

mehr


Good Morning America. Ein Land wacht auf (Bücher)

Tiefe persische Nacht

von Claudia Kotte

Mahmud Doulatabadis Roman „Der Colonel“ erzählt vom Untergang einer Familie und dem Zerfall der iranischen Gesellschaft

mehr


Unter der Erde (Thema: Unter der Erde)

„Die Angst ist immer da“

von Luthando Mampintsha

Vier Kilometer unter der Erdoberfläche liegt das tiefste Bergwerk der Welt. Über den Alltag in der Mponeng-Goldmine in Südafrika

mehr


Unter der Erde (Theorie)

Der Traum vom freien Netz

von Kian Vesteinsson

Im Kampf gegen die großen Techkonzerne greifen Regierungen selbst immer öfter zu Zensur und Überwachung. Dabei müssten neue Gesetze vor allem Freiheits- und Menschenrechte ins Auge fassen

mehr


Das Deutsche in der Welt (Thema: Deutschsein)

„Wir haben unsere Stiefel anbehalten“

ein Gespräch mit Hubertus von Hobe

Major Hubertus von Hobe über die Verständigung zwischen deutschen Soldaten und Afghanen

mehr


Zweifeln ist menschlich. Aufklärung im 21. Jahrhundert (Bücher)

Der skurrile Diktator

von Samson Kambalu

In „Herr der Krähen“ karikiert der kenianische Autor Ngugi wa Thiong’o einen afrikanischen Despoten und liefert Rezepte für eine bessere Welt gleich mit

mehr