„Menschen in Seenot rufen uns an“

ein Interview mit Lisa Groß

Neuland (Ausgabe II/2016)


Frau Groß, Sie arbeiten ehrenamtlich für das Projekt Alarmphone, eine Hotline für Geflüchtete in Seenot. Wie genau funktioniert das?

Das Vorgehen ist recht simpel. Wenn Geflüchtete auf dem Mittelmeer in Seenot geraten, rufen sie unsere Nummer an oder schreiben uns über WhatsApp. Am wichtigsten ist, dass sie uns ihre GPS-Daten und ihre Telefonnummer durchgeben. Mit Smartphones kann man ja ganz einfach seinen Standort verschicken. Dann fragen wir, wie viele Menschen auf dem Boot sind und was genau das Problem ist. Anschließend kontaktieren wir die Küstenwache und begleiten die Aktion so lange, bis wir entweder von den Behörden oder den Menschen auf dem Boot eine Bestätigung erhalten haben, dass sie sicher angekommen sind.

Warum der Zwischenanruf bei Ihnen? Warum kontaktieren die Menschen nicht gleich die Küstenwache?

Uns sind Fälle bekannt, in denen die Zuständigkeiten der Küstenwache nicht ausreichend geklärt waren. Vor Lampedusa sind vor zweieinhalb Jahren mehr als 200 Menschen ertrunken, weil es zwischen der maltesischen und der italienischen Küstenwache Streitigkeiten darüber gab, wer für die Rettung verantwortlich sei. Das wollen wir mit einer zusätzlichen Überwachung verhindern. Zugleich wollen wir dadurch Fälle von illegalen Pushbacks nicht nur dokumentieren, sondern vor allem skandalisieren: In systematischen Operationen schicken Grenzbeamte Geflüchtete wieder zurück aufs offene Meer, ohne dass sie überhaupt einen Asylantrag stellen konnten. Das verstößt gegen die völkerrechtlichen Bestimmungen. Über jede Seenotrettung veröffentlichen wir einen Bericht im Internet. „We are watching you“ – das wollen wir nicht nur den Küstenwachen mitteilen, sondern auch der Politik.

Wie kommen Geflüchtete an Ihre Nummer?

Viel passiert über soziale Medien wie Facebook. Es gibt aber auch Mitglieder unserer Initiative, die sich in Istanbul oder Izmir in der Türkei oder in Marokko aufhalten. Dort stellen sie unser Projekt auf Veranstaltungen vor und verteilen unsere Nummer an Interessierte. Wenn die Geflüchteten dann mithilfe des Alarmphones sicher in Europa angekommen sind, erzählen sie anderen davon.

Wie viele Leute rufen am Tag im Schnitt an?

Das hängt sehr vom Wetter ab. Aber im Moment haben wir zwischen fünf und zehn Fälle am Tag, die meisten davon in der Ägäis. Wobei es auch vorkommt, dass Menschen auf einer entlegenen Insel stranden, auf der niemand wohnt und wo es weder etwas zu essen noch zu trinken gibt. Zwar ist das kein direkter Seenotfall, aber abholen muss sie trotzdem jemand.

Wie lösen Sie das Sprachproblem? Es müsste ja immer einen Dolmetscher für alle Sprachen geben.

Wir haben immer Übersetzer in der Hinterhand. Aber viele Betreuer des Alarmphones können Arabisch, was zusammen mit Farsi am häufigsten gesprochen wird. Viel funktioniert aber auch auf Englisch.

Was wünschen Sie sich für die Zukunft des Projekts?

In erster Linie soll das Alarmphone das Sterben auf dem Mittelmeer verhindern. Aber wir können nicht die Lösung sein. Immer noch sterben fast täglich Menschen in der Ägäis. Da kann man unsere Arbeit nur mit ein bisschen Feuerlöschen vergleichen. Unser Ziel ist ja nicht, uns als Mittler zwischen der Küstenwache und Menschen in Seenot zu institutionalisieren. Im Endeffekt tun wir alles, um unser Projekt überflüssig zu machen.

Was müsste dafür Ihrer Meinung nach geschehen?

Es müssen legale Fluchtwege nach Europa geschaffen werden: Wir wollen mit unserem Projekt das europäische Grenzregime ändern. Unserer Meinung nach hat jeder Mensch das Recht, sich frei zu bewegen. Es gibt zum Beispiel täglich eine Fähre zwischen der Insel Lesbos und Izmir für nur 15 Euro, die wir Europäer benutzen können. Menschen ohne die nötigen Einreisepapiere müssen jedoch auf die Schlepper ausweichen. Anstatt das Konzept Grenzöffnung überhaupt zu erwägen, tendiert unsere Politik dazu, sich abzuschotten in der Hoffnung, dass so weniger Menschen kommen. Diese Abschottung macht die Flucht allerdings nur noch gefährlicher, ja sogar tödlicher.

Das Interview führte Tanja Kunesch



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