Die Kinder der Boches

von Jean-Paul Picaper

Was vom Krieg übrig bleibt (Ausgabe I/2007)


Während sich auf politischer Ebene eine beispielhafte Versöhnung zwischen den einstigen Erzfeinden Deutschland und Frankreich vollzog, waren in Frankreich die Kinder der „Boches“, der Deutschen, weiterhin vielfach geächtet. Eines dieser Kinder ist Daniel Rouxel. Er ist heute 61 Jahre alt. Seine Geschichte begann mit einem simplen Malheur.

Léa Rouxel, eine hübsche Französin von zweiundzwanzig Jahren, kaufmännische Angestellte in Dinard, fährt an einem Abend des Jahres 1942 mit dem Fahrrad auf der Landstraße, die von Dinard nach Pleurtuit führt. Nach dem Ende ihres Arbeitstages ist sie auf dem Weg nach Hause. Plötzlich springt ihre Fahrradkette heraus, und dies auch noch ausgerechnet vor dem Flugfeld von Pleurtuit-Dinard, das von den Deutschen beschlagnahmt wurde und das sie seitdem besetzt halten. Ein junger Offizier auf dem Weg ins Militärlager eilt auf die junge Frau zu, um ihr seine Hilfe anzubieten. Diese nimmt an, und während sie lächelnd die Lenkstange hält, geht er in die Hocke und fängt an, die Kette zu reparieren. Als er damit fertig ist, richtet er sich wieder auf, seine Hände sind voller Kettenfett. Léa reicht ihm ein Schmutztuch. Sie sind beide jung und unbekümmert. [...]

Als Daniels Mutter seinem Vater begegnet, waren die Vorzeichen denkbar ungünstig. Und es brauchte viele Jahre, bis er seine Geburt nicht mehr als einen „Unfall“, ja sogar ein „Verbrechen“ ansah: „Ich wurde am 2. April 1945 in Paris geboren. Ich glaube, ich bin ein Kriegsunfall. Mein Vater war Deutscher, meine Mutter Französin. Bis zum Alter von vier Jahren lebte ich bei einer Pflegefamilie. Dann brachte man mich zu meiner Großmutter in ein kleines Dorf in der Bretagne. Die hat mich aufgezogen, bis ich zwölf Jahre alt war. Die Leute gingen an unserem Haus vorbei, um nachzusehen, ob ich ein menschliches Wesen bin wie alle anderen.“ [...] „In diesem ländlichen Teil der Bretagne war der Sohn eines Boche gar nicht gerne gesehen. [...] Und da ich hellblond war und blaue Augen hatte, konnten sie daraus ihre Schlüsse ziehen. Aber meine Großmutter verbot mir, vor die Tür zu treten. Also blieb ich im Käfig. Und der Käfig, das war der Hühnerstall, in den sie mich die ganze Nacht mit dem Vorhängeschloss einsperrte.“ [...]

Jeanne Allé, seine ehemalige Lehrerin, kann sein damaliges schweres Los nur bestätigen: „Die Großmutter schlug ihn. Sie benutzte dazu einen Stock, der immer in ihrer Reichweite war. Und dann gab es da noch den Hühnerstall, in dem er nicht selten die Nacht verbringen musste. Ich erinnere mich an ein Kind, das daheim unglücklich war, das aber auch von den Leuten hier nicht gerade zart behandelt wurde. Ich glaube, seine Großmutter litt unter dieser ganzen Situation. In diesen Zeiten eine unverheiratete Tochter zu haben, die ein Kind, und dann auch noch von einem Deutschen, hatte, war fürchterlich. Im Dorf wussten schließlich alle Bescheid. Also die arme Frau, die Großmutter, stellen Sie sich das nur mal vor... Ich glaube, dass sie ihn all das manchmal hat büßen lassen, und das auch noch äußerst schwer.“

Daniel erinnert sich auch noch an eine Episode, die ihm fast das Herz zerrissen hätte: „Nach der Messe war es üblich, dass der Gemeindesekretär alle Einwohner versammelte, um ihnen die Dorfneuigkeiten mitzuteilen. Er war ein wichtiger Mann. Als Gemeindebeamter konnte er sogar den Bürgermeister vertreten. Eines Tages, als er wieder einmal dieses Amt ausfüllte, rief er mich am Kirchenausgang zu sich, ließ mich auf eine kleine Steinstufe auf dem Dorfplatz steigen und erklärte vor allen Leuten seinen Zuhörern: ‚Ich möchte mit euch sprechen. Kennt Ihr den Unterschied zwischen dem Sohn eines Boche und einer Schwalbe?‘ Niemand antwortete. ‚Nun, ich werde es euch sagen. Wenn eine Schwalbe in Frankreich ihre Kleinen macht, nimmt sie die mit, wenn sie davonfliegt, aber der Boche lässt die seinen da.‘ Danach habe ich viel geweint. Ich schämte mich so, dass ich mich die ganze Nacht unter einer Brücke versteckte. Ich dachte sogar daran, meinem Leben ein Ende zu setzen. [...]

Ich habe diese Scham bis zu meinem achtzehnten Lebensjahr empfunden, und sie hat mich eigentlich erst richtig verlassen, als ich in dem von TF1 ausgestrahlten Dokumentarfilm darüber sprechen konnte.“ 

Die abgedruckten Auszüge sind dem Buch von Jean-Paul Picaper und Ludwig Norz: „Kinder der Schande. Das tragische Schicksal deutscher Besatzungskinder in Frankreich“ (Piper Verlag, München 2005) entnommen. Der Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung der Autoren und ihres Interviewpartners Daniel Rouxel.
 
 Zusammengestellt von Karola Klatt



Ähnliche Artikel

Das Deutsche in der Welt (Thema: Deutschsein)

Thomas Mann als Handicap

von Rosa Ribas

Die deutsche Literatur gilt als schwierig. Wie man ihr dennoch verfallen kann

mehr


Was vom Krieg übrig bleibt (Thema: Krieg)

Totgepredigt

von Nadim Oda

Im Irak ist ein Kampf der Konfessionen um die Kultur ausgebrochen

mehr


Was vom Krieg übrig bleibt (Forum)

„Migrantenkinder werden unterfordert“

von Janina Söhn

Fördern oder Fordern

mehr


e-volution. Wie uns die digitale Welt verändert (Weltreport)

„Ich will die Leute entkrampfen“

ein Gespräch mit Avi Primor

Der frühere israelische Botschafter Avi Primor hat ein Buch über deutsch-jüdische Missverständnisse geschrieben

mehr


Helden (Thema: Helden)

„Wir sind alle Rudeltiere“

ein Interview mit Cornelia Funke

Ganz ohne Helden geht es nicht. Die Autorin Cornelia Funke erklärt im Gespräch unser Bedürfnis nach Vorbildern und worin sich die Idole von Kindern und Erwachsenen unterscheiden

mehr


Was vom Krieg übrig bleibt (Die Welt von morgen)

Französische Welle

Eine Kurznachricht aus Frankreich

mehr