Während des Bürgerkrieges im Kongo von 1996 bis heute hatte die Zivilbevölkerung stets am meisten unter den Auseinandersetzungen zwischen den kriegführenden Parteien zu leiden, seien es ethnisch definierte Milizen, so genannte Kräfte zur Verteidigung des Volkes, Rebellengruppen oder Regierungstruppen. All die Gefechte, die ewige Unsicherheit und das furchtbare Leid, die das drittgrößte Land Afrikas (mit schätzungsweise 60 Millionen Einwohnern) heimsuchten, haben eine Entwicklung mit weitreichenden Folgen ausgelöst: einen Massenexodus von Kongolesen, die Sicherheit und ein neues Leben in anderen afrikanischen Staaten, in Europa oder Nordamerika suchen. So kam es zu einer umfassenden kongolesischen Diaspora.
Die Ärmsten der Armen flüchten zu Fuß ohne ausreichende Verpflegung und Kleidung vor den blutigen Kämpfen in die Nachbarstaaten. Um ihre dringendsten Bedürfnisse kümmern sich zahlreiche Hilfsorganisationen, die in den betroffenen Gebieten arbeiten. Einen Flug nach Nairobi, Johannesburg, Brüssel oder Montreal können sich nur Angehörige der gut ausgebildeten Mittelschicht leisten, die einst so wichtig für die kongolesische Verwaltung und die Arbeitswelt insgesamt war. Dieser „brain drain“, der Verlust an ausgebildeten Arbeitskräften, der heute viele afrikanische Krisengebiete betrifft, wird oft irrtümlicherweise als positiver Aspekt einer Globalisierungsdynamik gesehen. Das Gegenteil ist der Fall, denn Massenflucht und globale Diaspora bedeuten einen kulturellen Verlust mit weitreichenden, womöglich unumkehrbaren Folgen für das Heimatland.
Ob diese schädliche Entwicklung rückgängig gemacht werden kann, hängt maßgeblich davon ab, wie es gelingen wird, einen neuen funktionierenden Staat Kongo aufzubauen, in den auch emigrierte Landsleute genug Vertrauen für eine Rückkehr fassen. Das Wahlergebnis der Präsidentenwahl vom Oktober ist verkündet worden, und die unterlegene Partei, die von einem früheren Warlord geführt wird, hat versprochen, die Ergebnisse friedlich anzuerkennen. Die neue Regierung kann sich auf den Weg machen, das Land wiederaufzubauen. Die Schaffung einer sicheren Umwelt, in der ein Wiederaufbau beginnen kann, muss dabei oberste Priorität haben. Dadurch entstehen für ausgewanderte Kongolesen Anreize, in die Heimat zurückzukehren.
Einen Schaden für das Heimatland bedeutet die umfassende Diaspora beziehungsweise die Abwanderung der Mittelklasse nicht nur allgemein im Sinne einer Schwächung der Zivilgesellschaft. Es bleibt auch schlicht keiner übrig, der sich gegen die Beutezüge einer militarisierten und egoistischen Politikerriege stellen könnte. Menschenrechtsaktivisten sind rar, und der investigative Journalismus verkauft sich an den Meistbietenden. Zwar berichten ausländische Nachrichtenagenturen über die Konflikte, doch gerade die einheimische Bevölkerung, die vor allem unter dem Krieg leidet, hat keinen Zugang zu diesen Informationsquellen. Je mehr gut ausgebildete Kongolesen ihr Land verlassen, desto mehr verdüstert sich die Lage und desto stärker findet sich das Land isoliert. Zwar gibt es keine genauen Zahlen, offenkundig ist aber, dass fast alle ausgebildeten, alphabetisierten Arbeitskräfte weggehen und ein regelrechtes Vakuum hinterlassen.
Ein weiteres Element, das im Massenexodus unter die Räder kam, ist der Patriotismus in Sinne von Engagement und Opferbereitschaft für das Heimatland. Zurzeit ist Nationalstolz gleichbedeutend mit Teilung und Fremdenfeindlichkeit. Für den Alltag vor Ort heißt dies, dass ein tiefe Kluft zwischen den Vertretern der Lingala und der Suaheli herrscht, den Anhängern des Präsidenten Joseph Kabila und seines bei den Wahlen unterlegenen Herausforderers Jean-Pierre Bemba. Auf internationaler Ebene äußern sich patriotische Gefühle als Misstrauen gegenüber den westlichen Mächten, die – aus einer allzu bequemen Haltung heraus – als Ursache für alle Probleme der Demokratischen Republik Kongo angeprangert werden. Demgegenüber gibt es keine kollektive Kritik an den politischen Eliten, keine Anstrengungen des Volkes, inkompetente Politiker aus ihren Ämtern zu jagen und sie durch fähige und integre zu ersetzen. Die Auswanderung der gebildeten Schichten trägt zur Verfestigung eines Systems der Unterdrückung und Unterwürfigkeit bei.
Ich habe in den letzten 18 Jahren im Kongo gearbeitet, und oft wurde ich gefragt, was dem Land fehlt, um zur Normalität zurückkehren zu können. In kongolesischen Ohren klingt meine Antwort etwas unangenehm, aber durchaus verständlich: „Wo sind die kongolesischen Patrioten? Die Emigranten sollen heimkehren, ihre Eigeninteressen zurückstellen und sich am Wiederaufbau beteiligen. Wartet nicht immer darauf, dass andere es für euch tun.“ Etwas peinlich berührt antwortete ein kongolesischer Freund von mir, der in den USA lebt: „Es fällt schwer, heute patriotisch zu sein. Wo kann man investieren, worauf soll man stolz sein? Ich lebe im Ausland, weil ich hier etwas habe, das Wichtigste überhaupt, das zu Hause einfach nicht geboten wird: einen Ort, an dem meine Kinder in Frieden aufwachsen können und eine anständige Ausbildung erhalten.“ Ein Spruch, mit dem Kongolesen gerne die heutige Krisensituation beschreiben, schließt den Staat von vornherein aus: „Chacun pour soi et Dieu pour tous“ („Jeder für sich und Gott für alle“).
Im Bewusstsein der Mehrheit hat sich das Bild eingeprägt, dass die politische Klasse eine unantastbare Elite sei, unerreichbar für den normalen Kongolesen und über den Gesetzen stehend. Ein derartiger Glaube kommt natürlich einer Selbstentmachtung des Staatsbürgers gleich, der jedes Gefühl für die Möglichkeiten einer politischen Einflussnahme verloren hat. Umgekehrt resultiert aus dieser Haltung eine Art Immunität der politischen Klasse, die bei ihren stummen Untergebenen auf keinerlei Widerstand stößt.
Mit am deutlichsten schlägt sich dieser Machtverlust in einer Art Apathie nieder, mit der viele Kongolesen die Stichwahlen am 29. Oktober verfolgt haben. Obwohl es sich hier um die ersten Wahlen seit 1961 handelt, in denen mehrere Parteien antreten, sehen nur wenige sie als eine echte Chance für einen historischen Wandel im Kongo. Man glaubt, der Ausgang der Wahlen werde ohnehin vom Westen bestimmt, der die Wahlen (mit 420 Millionen Dollar) finanziert.
Nicht nur im Krieg, sondern schon seit der Mobutu-Ära, hat eine lange Phase der Unterdrückung durch viele verschiedene Führungspersönlichkeiten, die alle von sich behaupten, „aus dem Volk und für das Volk“ zu sein, viel von dem Willen der Menschen, sich für eine bessere Gegenwart und Zukunft einzusetzen, geschwächt. Der zynische Patriotismus der politischen Eliten – Vetternwirtschaft und Korruption statt dem Gemeinwohl zu dienen und eine Kultur der Verantwortlichkeit zu etablieren – ist das einzige Modell, dem Kongolesen folgen können. Auf lokaler Ebene imitieren die Obrigkeiten einfach die falsche Rhetorik vom Dienst an der Nation, während sie die Bevölkerung bestechen und erpressen und lebensnotwendige Mittel umlenken von den Hilfsorganisationen in ihre eigene Tasche. Im Endergebnis haben Kongolesen im In- und Ausland jeden Glauben an die Politik als Mittel zur Lösung der immensen Probleme des Landes verloren.
Aber wie ein Sprichwort sagt: Die Hoffnung stirbt zuletzt. Viele Kongolesen erwarten eine Lösung ihrer Probleme nicht durch Kongolesen, sondern von den westlichen Ländern, in die so viele auf der Suche nach einem besseren Leben geflohen sind. Paradoxerweise werden die westlichen Länder einerseits als Verantwortliche für die Krise im Kongo gesehen und zugleich als die möglichen Retter. Besonders während der bittersten Jahre des Krieges glaubten viele daran, dass nur ein „Marshallplan“ – den die internationale Staatengemeinschaft implementieren und managen würde – eine Lösung für die Misere sein könnte. Allerdings sagt der fehlende politische Wille für ein solches Unternehmen einiges über die geopolitische Relevanz der ärmsten und bedürftigsten Länder aus, die es heute gibt, allen voran der Kongo. Aber auch wenn der Wille da wäre, würde logistisch gesehen, ein Marshallplan für den Kongo ein Langzeitengagement und materielle Aufwendungen verlangen, die die Möglichkeiten multilateraler Institutionen wie der Weltbank oder der Vereinten Nationen bei weitem übersteigen. Schon jetzt pumpen sie Hunderte Millionen Dollar im Jahr dorthin.
Nach dem Debakel, das die Besetzung Somalias durch die US-Armee hervorgerufen hatte, würde außerdem kaum eine westliche Regierung ernsthaft den Vorschlag machen, den Kongo für den Zeitraum seines Wiederaufbaus unter Aufsicht internationaler Truppen zu stellen. Letztendlich müssen die Kongolesen ihr Land selbst wieder aufbauen, ob das nun gut oder schlecht ausgehen mag.
Obwohl immer noch kleinere Konfliktherde und unsichere Gebiete vorhanden sind, ist die Rückkehr zum totalen Krieg, die viele im Zuge der Präsidentenwahlen befürchtet haben, ausgeblieben. Die nächsten sechs Monate werden zeigen, ob die gewählte Regierung einen Kurs einschlagen kann, der emigrierten Kongolesen eine Heimkehr attraktiv macht. Die ausgebildete und professionalisierte kongolesische Diaspora zu ersetzen würde die Ausbildung und kulturelle Anpassung einer ganze Generation der heutigen Jugend erfordern. Kongo kann nicht noch eine Generation lang auf seine Erneuerung warten. Das Herz und der Kopf seiner gesamten beruflichen und wirtschaftlichen Fähigkeiten – die Diaspora selbst – müssen von ihren Fluchtorten zurückkehren und mit dem Wiederaufbau des Landes beginnen.
Aus dem Englischen von Loel Zwecker