„Vielleicht sterbe ich“

ein Gespräch mit Shinkai Zahine Karokhail

Was vom Krieg übrig bleibt (Ausgabe I/2007)


Was hat sich nach dem Sturz der Taliban politisch verändert?

Am Zusammenbruch des Talibanregimes war die internationale Gemeinschaft beteiligt. Danach wollten wir so schnell wie möglich unsere Selbstständigkeit wiedererlangen. Gleichzeitig unterstützte uns die internationale Gemeinschaft: Sie setzte Menschenrechts-Kommissionen ein und entwickelte eine neue Verfassung mit gleichen Rechten für Frauen und Männer. Und die ISAF-Truppen garantieren auch die Sicherheit der Frauen.

Was können Sie heute als Frau im Parlament erreichen?

Mein Beitrag lautet: Wie kann ich einzelne Paragraphen im Interesse der Frauen ändern. Im August haben wir zum Beispiel ein neues Gefängnis-Gesetz verabschiedet: Nun können Babys bei den Müttern bleiben, Frauen werden medizinisch betreut, Wärterinnen bewachen weibliche Häftlinge. An all das hätten die Männer nie gedacht.

Wie kommen Sie mit den früheren Taliban im Parlament klar?

Einer fragt mich vor Abstimmungen oft um Rat. Er ist sehr freundlich. Mit ihm habe ich kein Problem. Ich habe ein Problem mit denen, die am Bürgerkrieg und der Zerstörung beteiligt waren. Der einfache Taliban fühlt: Ich muss mich als Muslim für den Fortschritt meines Landes einsetzen. Manche von ihnen sind ehemalige Kämpfer gegen die Russen, manche Geschäftsleute. Es ist nicht gerecht, jeden Mudschahedin Warlord zu nennen.

Welche Rolle spielen die Warlords?

Sie bekleiden hohe Posten. Sie werden, auch finanziell, aus Pakistan und Iran unterstützt. In den Provinzen, wo Frauen eine unsichtbare Rolle spielen, schicken Warlords über die Quote bestimmte Frauen ins Parlament, und machen so ihren Einfluss geltend. Die Frauen wissen nichts von ihren Rechten, sind ungebildet, stehen nicht in Kontakt miteinander. Unsere Gesellschaft wird noch von Männern dominiert. Wir haben ein „Manlord-Parlament“.

Was meinen Sie damit?

Egal ob Warlord, religiöser Politiker oder Kommandant: Männer tun sich zusammen und üben so Macht aus. Die Frauen schweigen dann.

Verbünden Frauen sich auch?

Frauen sind bisher nicht so stark, dass man sich auf sie gut verlassen kann. Aber ich bin optimistisch. Wir werden Stück für Stück das Leben der afghanischen Frauen verändern. Die Parlamentarierinnen sind schon zivilisierter geworden: Sie diskutieren, trinken Kaffee zusammen, gehen essen. Es wird einfach noch dauern.

Wie gefährlich ist die Lage für Politikerinnen im Moment?

Frauen kann viel passieren. Vielleicht stirbt eine Ministerin, vielleicht sterbe ich. Aber wir kämpfen weiter. Wenn wir nicht alle Frauen hinter uns haben, so haben wir wenigstens ein paar Männer hinter uns. Und ich bin mir sicher: Eines Tages haben wir sie alle hinter uns.

Was muss in Afghanistan am dringendsten getan werden?

Die ISAF-Truppen können nicht die einzige Lösung sein. Wir müssen eine eigene Verwaltung, Polizei und Armee aufbauen. Das Leben der Menschen muss langfristig finanziell verbessert werden. Wer Geld von der Regierung bekommt, wird nicht die Taliban unterstützen. Den Menschen geht es ums Überleben: Wenn sie Geld bekommen können, egal von wem, nehmen sie es, um ihre Kinder zu ernähren. Wenn die Warlords eine starke Position im Land innehaben, muss man natürlich mit den Warlords leben. Aber die Zivilbevölkerung hat genug von ihnen.

Wie beeinflussen die ISAF-Truppen Ihren Alltag?

Die Truppen erleichtern vieles: die Krankenversorgung, die Infrastruktur, Schutz bei großen Meetings. Sie spielen mit den Kindern, bringen Sachen mit, manchmal kümmern sie sich um Schulräume für Mädchen. Ich kaufe viele ISAF-Produkte, etwa Cornflakes für ein besseres Frühstück.

Das Interview führte Nikola Richter



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