Feindliche Übernahme

von Alexander Demandt

Was vom Krieg übrig bleibt (Ausgabe I/2007)


„Der Krieg ist der Rabenvater aller Dinge“ – so müsste man wohl den bekannten Spruch korrigieren, falls Heraklit aus Ephesus mit polemos nicht im weiteren Sinne soviel wie Konflikt, Konkurrenz oder Kontakt gemeint haben sollte. Denn da der Mensch von Natur ein soziales Wesen ist, entsteht auch die Kultur, die ihn vom Tier unterscheidet, aus dem spannungsreichen Leben in der Gemeinschaft. Die Art, in der sich soziale Spannungen und gewaltsame Auseinandersetzungen im kulturellen Leben ausgewirkt haben, hat sich im Laufe der Jahrhunderte verändert. Wie sich das heute darstellt, so war das nicht immer.

So wie Kultur ist auch Krieg eine Konstante der historischen Anthropologie und wurzelt in der menschlichen Natur. Tiere kämpfen mit ihresgleichen um Chancen zur Fortpflanzung, mit Gleich- und Andersartigen um Jagdgründe und Wasserstellen. Menschen streiten um mehr oder weniger lebensnotwendige Güter. In der dünnbesiedelten Landschaft der Urzeit ist kaum mit Kriegen zu rechnen. Doch könnten die ältesten Steingeräte, die wir finden, sowohl als Werkzeuge wie als Waffen gedient haben. Nachdem in der jüngeren Steinzeit der Steinschliff erfunden war, hat man höchst kunstvolle Äxte und Beile geschaffen, mit denen man gewiss keine Bäume gefällt, sondern eher Opfertiere oder Menschen erschlagen hat. Das älteste sichere Indiz für kriegerische Auseinandersetzungen sind die frühesten Stadtmauern von Jericho, aus dem siebten Jahrtausend vor Christus, mit einem Turm von neun Metern Durchmesser und einer Mauerstärke von 1,7 Meter. Das kann nur der Verteidigung gedient haben. Jeder Krieg beginnt mit der Herstellung der Verteidigungsbereitschaft.

Krieg bezeugt keinen elementaren Dissens. Vielmehr setzt er ein Einvernehmen der beiden Parteien darüber voraus, wann und wo, wie und worüber gestritten wird, worüber zu streiten lohnt. Darüber ist man sich einig. Es sind keineswegs nur lebensnotwendige Dinge, die man vom Gegner erstreiten will. Der Kampf geht, bildlich gesprochen, seltener ums Brot als um den Aufstrich – und manchmal nur um den ersten Platz an der Tafel. Wo primär Beute begehrt wird, spielt schon früh die Wertschätzung der Kultur des Feindes eine Rolle. Wenn in der Alten Welt Götterstatuen geraubt und daheim aufgestellt wurden, mag man weniger deren Kunstwert als deren magische Kräfte im Auge gehabt haben. Die Belege reichen von den frühen Assyrern über das Standbild der Iphigenie bei den Tauriern am Schwarzen Meer bis zur Überführung des Palladiums aus Rom nach Byzanz unter Konstantin dem Großen. Aber es gibt auch frühe Beispiele für Kunstraub aus Siegesstolz.

Die heute im Louvre befindliche Gesetzes-Stele des Königs Hammurabi aus der Zeit um 1700 v. Chr. wurde nicht etwa in Babylon gefunden, sondern in der Residenz des Königs Schutruk-Nachunte von Elam, der seine Hauptstadt Susa mit Beutekunst aus den benachbarten Ländern zu schmücken beliebte. Die großenteils aus Beutegut bestückte Tontafelbibliothek des Assyrerkönigs Assuribanipal, in der sich das Gilgamesch-Epos fand, blieb erhalten, weil in der Brandkatastrophe bei der Eroberung von Ninive im Jahre 612 v. Chr. durch die Meder die lediglich luftgetrockneten Lehmtafeln im Feuer gehärtet wurden. Ein Werk der Weltliteratur wurde gerettet. So kann der Krieg, den wir heute nur als Zerstörer erleben, auch einmal Kultur bewahren, die sonst zerfallen wäre.

Ein für die Geistes- und Religionsgeschichte höchst folgenreiches Ereignis war die Deportation der Juden in die babylonische Gefangenschaft. Sie hatten sich gegen Nebukadnezar empört, der daraufhin im Jahre 586 v. Chr. Jerusalem eroberte und Tausende von Juden nach Mesopotamien umsiedelte. Hier kamen sie mit der Religion Zarathustras in Berührung, der an einen universalen Himmelsgott glaubte, einen dämonischen Widersacher annahm und ein Weltende mit dem Sieg des Guten lehrte. Diese Idee übertrugen die Propheten auf Jahwe, den jüdischen Stammesgott, der zunächst nur einer unter vielen gewesen war. Moses hatte die Verehrung „fremder Götter“ untersagt, die nun keine Götter mehr waren. Damals kam das „Paradies“ aus dem Persischen ins Hebräische. Das Wort bezeichnet ursprünglich den Jagdgarten des Großkönigs.

Die größten Künstler der Antike waren die Griechen. Ihre Werke haben immer und überall Bewunderung gefunden. Dies gilt sogar für die Perser, ihre Erbfeinde im Osten. Ihre Könige haben griechische Bildhauer und Baumeister für sich arbeiten lassen. Als Xerxes im Jahre 480 v. Chr. Athen erobert hatte und sich, bei Salamis besiegt, nach Asien zurückzog, da nahm er als kostbarste Beute die Bronzestatuen der Tyrannenmörder Harmodios und Aristogeiton mit. Die Gruppe der beiden Freiheitshelden war im Auftrag der Athener von Antenor geschaffen und als einziges Kunstwerk ehrenvoll auf dem Marktplatz der Stadt aufgestellt worden. Das Monument feierte die wiederhergestellte Demokratie und ist das älteste politische Denkmal der Kunstgeschichte. Alexander der Große hat später nach seinem Sieg über Darius I. den Athenern die Statuen zurückgegeben.

Der Brand von Persepolis war, sofern von Alexander beabsichtigt, eine Kulturbarbarei. Im Schutt des Palastes entdeckten die Archäologen eine weitere klassisch griechische Skulptur, eine trauernde Penelope, heute ein Prunkstück im Teheraner Museum. Trotz des Palastbrandes steht Alexanders Interesse an der Welt des Orients außer Frage. Sein Feldzug nach Asien diente zugleich der Entdeckung. Zu diesem Zweck nahm der König Landvermesser, Biologen und Philosophen mit, die Kunde aus Persien und Indien in den Westen brachten. Sven Hedin hat darum 1913 Kolumbus als den „Alexander der Neuen Welt“ bezeichnet.

Höchste Wertschätzung genoss griechische Kultur bei den Römern. Sie wussten stets, wem sie ihre Bildung verdankten und präsentierten sich als die ältesten Philhellenen. Das hat sie nicht daran gehindert, gegen die Griechen Krieg zu führen, sobald sie sich provoziert fühlten. Im Jahre 146 v. Chr. eroberte Lucius Mummius die Hafenstadt Korinth, wo römische Gesandte beleidigt worden waren, und ließ ganze Schiffsladungen voller Kunstwerke, Weihgeschenke und sonstiger Schätze nach Italien bringen, wo sie hoch geachtet waren. Die Stadt selbst wurde zerstört, die Bevölkerung versklavt. Menschenraub ist ein Verbrechen gegen die Humanität, aber Kunstraub ist nicht unbedingt ein Verbrechen an der Kunst, impliziert vielmehr ein Kompliment an den Künstler, an den Mäzen, an den Eigentümer.

Zwar wird der Beraubte geschädigt, und das ist ungerecht, aber mitunter wird das Kulturgut gerettet, wenn der Besitzer es nicht zu schätzen wusste oder gar verkommen ließ. Im Reich des Räubers kann es zu neuer Entfaltung gelangen, sofern er die Schätze als Siegestrophäen nicht in ungeöffneten Kisten in den Magazinen seiner Museen schlummern lässt, wie dies als Folge des letzten Weltkriegs noch immer zu beklagen ist. Das Desinteresse vieler Politiker am Schicksal von Kulturgut ist skandalös.

Ein Gegenbeispiel zur modernen Sterilisierung von kultureller Kriegsbeute ist die Befruchtung römischer Kunst durch erbeutete griechische Meisterwerke. Sie haben eine Massenproduktion von Um- und Nachbildungen ausgelöst. Alles, was Winckelmann einst in Italien als griechisches Original bewunderte, war römische Kopie. Auch die Literaturgeschichte kennt Beispiele für kriegsbedingte Kulturvermittlung. Als Sulla 86 v. Chr. die von dem romfeindlichen Tyrannen Aristion beherrschte Stadt Athen eingenommen hatte, entdeckte er dort die in einem Keller verstauten Bücher des Aristoteles. Er ließ sie nach Rom bringen, wo sie katalogisiert und publiziert wurden. Damit kamen sie zur Wirkung bei der Nachwelt.

Kulturaustausch erfolgt meist asymmetrisch, es gibt eine gebende und eine nehmende Seite. Mühlmann und andere Ethnologen sprechen vom kulturellen Gefälle, das in der Geschichte zwischen zivilisierten und barbarischen Völkern zu erkennen ist. Musterbeispiel ist das Lehrer-Schüler-Verhältnis zwischen Römern und Germanen in der Zeit von Cäsar bis zu Theoderich dem Großen, also in der ersten Hälfte des ersten Jahrtausends nach Christus. Während die Römer eine hoch entwickelte Stadt- und Schriftkultur besaßen, lebten die Germanen, nach Stämmen und Gefolgschaften gegliedert, ohne Literatur und Geld in ihren Dörfern. Die begehrte Teilhabe an den Segnungen des Imperiums erreichten sie als Krieger. Während im Reich der Soldatenstand wenig geachtet war, begriff sich der Germane als Kämpfer. Wo immer sich die Gelegenheit bot, durchbrach er den Limes, um Beute zu machen. Kostbarstes Gut waren Gefangene, die nun im Barbaricum nach römischer Weise Häuser bauten, Keramik brannten, Münzen und Waffen herstellten.

Um der Bedrohung Herr zu werden, haben die Römer in wachsendem Umfang germanische Söldner angeworben. Diese erlernten die römische Kriegstechnik und brauchten sie nicht selten gegen die Römer selbst. Der berühmteste Fall ist der Cherusker Arminius, der Sieger im Teutoburger Wald 9 n. Chr. Er hatte als Anführer einer römischen Hilfstruppe gedient und einen römischen Namen erhalten, war in den Rang des „ordo equester“ aufgestiegen und wandte sich gegen Varus, den Feldherrn des Augustus, als dieser versuchte, das rechtsrheinische Germanien zu annektieren.

Bei den zahlreichen Gold- und Silberfunden römischer Herkunft außerhalb des Imperiums ist meist unklar, ob es sich um Beute, Handelsgut oder diplomatische Geschenke handelt. Denn schon seit Augustus kam es vor, dass Rom sich der Loyalität seiner kriegerischen Nachbarn durch Gaben an deren Fürsten zu versichern suchte. Solche „Stillhaltegelder“ gelangten in zunehmendem Umfang ins Barbaricum, während zugleich die Zahl germanischer Krieger in römischem Solde stieg. Einer ihrer Anführer, der Thüringer Odovacar, setzte 476 den letzten Westkaiser, Romulus Augustulus, ab. Wenig später erschien Theoderich der Große mit Heeresmacht in Ravenna und begründete das gotische Königreich in Italien. Er ließ an seinem Respekt vor der überlegenen römischen Kultur keinen Zweifel, indem er verkündete: „Nur ein elender Römer wählt einen Goten zum Vorbild, aber ein tüchtiger Gote folgt einem Römer.“

Die Germanen übernahmen von den Römern nicht nur materielle Kultur, wie allein die 600 lateinischen Lehnwörter im Deutschen beweisen, sondern auch die Religion. Das begann bereits in heidnischer Zeit, wenn etwa ein alemannischer Fürst in römischen Diensten sich dem Serapis-Kult anschloss und daraufhin seinen Sohn Agenarich in Serapion umbenannte. Wulfila, der die gotische Bibel schuf und den Goten das Christentum predigte, war der Enkel von griechischen Kriegsgefangenen aus Kleinasien, die um 300 bei den Goten lebten. Kriegsgefangene, griechische und römische Sklaven haben in den Nachbarländern den neuen Glauben verbreitet: wie bei den Goten so bei den Berbern, den Äthiopiern, den Kaukasiern. Jeweils nahmen die Sieger das Bekenntnis der Besiegten an.

Kulturelle Bereicherung durch Kriege ist oft dann zu beobachten, wenn die kriegführenden Völker auf unterschiedlicher Zivilisationsstufe standen. Kulturübernahme durch siegreiche Barbaren hat sich, wie bei den Germanen in Europa, mehrfach in Asien abgespielt. Die Araber zur Zeit Mohammeds waren zum größten Teil Nomaden aus der Wüste. Sie haben nach der Eroberung von Mesopotamien, Persien, Syrien und Ägypten die dort vorgefundene höhere Kultur übernommen und weiterentwickelt. Die führenden Köpfe im Umkreis von Harun-al Raschid waren keine Araber, sondern Perser, so auch sein Großwesir Dschafar, der Barmekide.

In Ostasien gewannen die kriegerischen Mongolen, die Nachfahren Tschingis Khans, die Herrschaft über China und verwandelten sich binnen weniger Generationen in Chinesen. Als solche traf Marco Polo sie an. Die siegreichen Mongolen haben in China den Buddhismus, in Indien und Persien den Islam übernommen dasselbe taten die aus Innerasien vordringenden Türken in Mesopotamien, wo sie ums Jahr 1000 den Kalifen als Söldner dienten. Nachdem sie das byzantinische Reich erobert hatten, ließen sie Christen für sich arbeiten. Die Kuppel der Hagia Sophia in Konstantinopel ist das Vorbild für viele Moscheen. Die Unterlegenen wurden zu Lehrern der Sieger – wie bei den Germanen und den Römern.

Der umgekehrte Vorgang, die Verbreitung des „wahren Glaubens“ und der „höheren Zivilisation“ durch den Sieger, kommt indessen häufiger vor. Schon die antiken Juden haben die Unterworfenen zwangsbekehrt, so die Kanaanäer und die Idumäer, denen Herodes der Große entstammt. Sie mussten sich beschneiden lassen oder sterben. Der Monotheismus hat den Religionskrieg ermöglicht. Die Franken wurden Christen im Gefolge von König Chlodwig, der um 500 auf Anraten seiner katholischen Gemahlin vor der Entscheidungsschlacht gegen die Alamannen gelobt hatte, den Glauben zu wechseln, falls Christus ihm den Sieg schenke. Dies geschah, und der König erhielt die Taufe, desgleichen seine Mannschaft. Karl der Große zwang die militärisch unterlegenen Sachsen zum Glaubenswechsel, der aber nicht rückgängig gemacht wurde, als 919 mit Heinrich dem Vogler die sächsischen Ottonen die Macht in Deutschland übernahmen. Das Christentum ist auf Waffengewalt nicht angewiesen, obschon es sie nie verschmäht hat. Der von den polnischen Königen gerufene Deutsche Orden missionierte mit dem Schwert im Baltikum, und auch hier behauptete sich der neue Glaube nach dem Niedergang des Ritterordens.

Die brutalste Zwangsbekehrung vollzogen die Spanier in Lateinamerika. Die Indios hielten jedoch ebenfalls am Christentum fest, als die Spanier ihre militärische Überlegenheit verloren hatten. Diese Vorgänge zeigen, dass ein Papst, der die Untauglichkeit gewaltsamer Glaubensverbreitung begründen will, die Geschichte ignoriert und schon gar nicht auf die im Koran gebotene und weitgehend erfolgreich erfüllte Pflicht des Moslems zum Heiligen Krieg gegen die Vielgötterei hinweisen muss. Die christliche Vergangenheit bietet genügend Beispiele für militante Mission.

Die zahlreichen Kriege zwischen den christlichen und den islamischen Völkern haben als „Kollateralnutzen“ mannigfaltigen Kulturtransfer bewirkt. Der in den europäischen Wappen hoch geschätzte Löwe geht zurück auf die Kreuzzüge, auf die Zeit von Heinrich „dem Löwen“ und Richard „Löwenherz“, die ihren Beinamen nie erhalten hätten, wäre der Kampf um Jerusalem unterblieben. Den zumeist militanten Kontakten mit Arabern und Türken verdanken wir zahlreiche Errungenschaften: die Chemie und die Zahlen, den Kaffee und den Zucker, alle möglichen Textilien, den Rosenkranz und den Knopf.

Die Kulturvermittlung ist aber keine Konstante. Die Erfindung des Schießpulvers und die Entwicklung der Feuerwaffen im 16. Jahrhundert haben verdeutlicht, dass die möglichen Gewinne durch militärische Gewalt in keinem vertretbaren Verhältnis zu den Verlusten an Menschen und Gütern stehen. Jeder Versuch, hier Nutzen und Schaden zu verrechnen oder gar an Kompensation zu denken, ist inhuman. Dies zeigen zuerst die spanischen Konquistadoren in Mittel- und Südamerika. Nirgends und niemals wurde Kultur so gründlich vernichtet wie damals. Der Kakao und die Kartoffel, der Tabak und die Tomate, die Europa der Neuen Welt verdankt, der Weizen und das Pferd, das Rad und die Schrift, die umgekehrt dort eingeführt wurden – musste all dieses im Schatten der Waffen erfolgen? Gehört es, mit Jacob Burckhardt zu sprechen, zur „Jämmerlichkeit alles Irdischen“, dass wir zur Verbreitung segensreicher Einrichtungen derart verderblicher Mittel bedürfen?

Die Kriege der Neuzeit hatten immense Kulturverluste zur Folge. Dass aus dem Dreißigjährigen Krieg die Halsbinde der Kroaten als „Krawatte“ überlebte, dürfen wir vergessen, ebenso die im Krimkrieg modisch gewordene Zigarette und den in den Lazaretten des Ersten Weltkriegs bekannt und beliebt gewordenen Adventskranz. Es ist eher ein Kuriosum, wenn Napoleon auf seinen Feldzug gegen die Engländer in Ägypten, so wie einst Alexander, einen ganzen Stab von Forschern mitnahm, die das Land und seine Geschichte erkundeten und den Louvre mit Funden aus dem Wüstensand bereicherten. Französische Soldaten fanden den Stein von Rosette, der die Entzifferung der Hieroglyphen ermöglichte. Kopien des Textes waren unverzüglich an alle großen Akademien Europas gegangen.

Je weiter wir uns der Gegenwart nähern, desto seltener werden die Beispiele für kriegsbedingten Kulturaustausch. Der Grund liegt kaum subjektiv in unserer verkürzten Blickdistanz, sondern eher objektiv in der fortgeschrittenen Globalisierung, der Vernetzung der Völker im Frieden und der dadurch bedingten Angleichung der technischen Standards. Immerhin kennen wir noch Einzelfälle von militärisch erzwungener Kulturübernahme aus der Mitte des 20. Jahrhunderts. 1945 hat Stalin Tausende von deutschen Spezialisten, von Ingenieuren, Fachärzten und Naturwissenschaftlern als zivile Gefangene in die Sowjetunion entführt, um dort veraltete Techniken zu modernisieren. Ein Großteil der Deportierten wurde nach Erfüllung der Aufgabe wieder in die Heimat entlassen. Gegenüber dem Westen gab es keinen ähnlichen technischen Vorsprung, doch ist die Karriere eines Wernher von Braun, Hitlers Raketenfachmann, in den USA kein Einzelfall gewesen. Schon mit den politischen Emigranten der 1930er Jahre gelangten hoch qualifizierte Kräfte ins Asyl der Neuen Welt, denken wir nur an Albert Einstein, der 1939 den Bau der Atombombe anregte.

Im Zweiten Weltkrieg wurde wie nie zuvor Kultur vernichtet. Dies sollte den Feind zermürben einen Ausschnitt beleuchtete Jörg Friedrich in seinem Buch „Der Brand“. Damals und in der Folgezeit hat der Krieg seine Nebenfunktion als Kulturvermittler verloren. Die Intensivierung des Austauschs an Waren, Menschen und Gedanken durch den modernen Weltverkehr bedarf – zynisch gesprochen – nicht mehr des Krieges als Lehrmeister. Der klassische Krieg eines Karl von Clausewitz (1834), der Kulturgüter und Zivilbevölkerung schonte, der erklärt, nach Regeln geführt und beendet wurde, ist ohnehin Geschichte geworden.

An seine Stelle traten Herfried Münklers „neue Kriege“: im Namen der Gerechtigkeit und der Freiheit durchgeführte Vergeltungsschläge und ethnische Säuberungen, Terrorakte und raketengestützte Polizeiaktionen. Der asymmetrische Kulturaustausch ist umgeschlagen in asymmetrische Kriege, bei denen der Gegner nicht als Feind, sondern als Verbrecher betrachtet und behandelt wird. Ein Interesse an Kultur ist hier nicht mehr erkennbar.

Zwar hat der Zweite Weltkrieg in Deutschland und Japan die Demokratie erneuert. Das war ein Gewinn an politischer Kultur. Doch danach hat die militärische Gewalt wenig Positives geleistet. Ob die Demokratisierung mit Hilfe von Panzern und Raketen in anderen Regionen gelingt, ist mehr als fraglich. Die Erfolge der UNO-Truppen in Afghanistan und der amerikanischen Invasion im Irak halten sich diesbezüglich in erkennbaren Grenzen. Demokratie muss von innen kommen. Insofern hat der Krieg als kultureller Lernprozess unter modernen Rahmenbedingungen ausgedient. Er nimmt nur noch und bringt nichts mehr. Schon in der Vergangenheit waren die aufgeführten Beispiele für kriegsbedingten Kulturgewinn eher Ausnahme- als Regelfälle und die destruktiven Wirkungen der Kriege insgesamt stets erheblich größer als die kulturfördernden Nebeneffekte. Heraklits Diktum ist, sofern überhaupt akzeptabel, zu ergänzen: Wenn der Krieg der Vater aller Dinge ist, so ist der Frieden ihre Mutter.



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