Das unbändige Gefühl von Hoffnung

Sabine Peschel

Freie Zeit. Was Menschen tun, wenn sie nichts zu tun haben (Ausgabe IV/2009)


Es gibt Bücher, die fehlen, solange sie nicht geschrieben sind: Jetzt ist er endlich da, der große Roman über alles, was der Begriff „Tian’an’men“ evoziert: den Aufbruch der studentischen Jugend, die revolutionäre Bewegung auf dem Platz des Himmlischen Friedens, das Massaker vom 4. Juni 1989, das erstarrte Schweigen danach. Der in London lebende chinesische Autor Ma Jian hat zehn Jahre an seinem Opus Magnum „Peking Koma“ gearbeitet. Entstanden ist ein 900-Seiten-Werk, das mitten ins kalte Herz Chinas führt. 


Im Zentrum des Romans steht als Protagonist der ehemalige Doktorand der Peking-Universität Dai Wei. Nein, er liegt. Er liegt unbeweglich im Koma, reduziert auf die Fähigkeit zu hören und zu riechen – und sich zu erinnern. Während sein Körper sich mehr und mehr zur Mumie wandelt, erwacht sein Denken, werden die Bilder immer schärfer, immer detailreicher. Diese Perspektive seiner Erinnerungen führt uns durch die dramatische Geschichte Chinas der Jahrzehnte vor und nach „89“, mit den Monaten der am Ende niedergeschlagenen Studentenbewegung als Dreh- und Angelpunkt.


Eigentlich sind es ja Stoffe für eine Trilogie, die Ma Jian uns da kunstvoll verwoben in einem einzigen Roman vorlegt. Dai Weis Jugend wird vom Schicksal eines als Rechtsabweichler verfolgten und in immer neue Arbeitslager verbannten Vaters dominiert. Der Junge hasst den einstigen Violinisten, der es verpasst hat, nach seinem Studium in Amerika zu bleiben. Die Brandmarkung in China ist für den jugendlichen Dai Wei auch da noch nicht verwachsen, als der Vater kurz nach seiner Rehabilitierung Anfang der 1980er-Jahre stirbt. Die Darstellung dieser Beziehung und ihrer späteren Erkundung durch den Geologie-Studenten Dai Wei hätte an sich schon eine eigene, faszinierende Erzählung abgegeben: ein Samsara der Grausamkeit.


Auch das, was mit dem durch einen Kopfschuss verletzten Aktivisten der Studentenrevolte im komatösen Zustand geschieht, hätte ausreichend Stoff für ein in sich abgeschlossenes Werk geboten: ein Buch, das ein Jahrzehnt umfasst, in dem sich China auf die Jahrtausendwende zubewegt. Während der Protagonist elend vernachlässigt auf seinem eisernen Bettgestell liegt und nur durch sein Erinnern lebt, sind die Personen, die noch in sein Leben treten, damit beschäftigt, zu vergessen, alle Probleme, aber auch alle politischen Visionen zu verdrängen – und sei es durch neue Fluchtwege wie das Praktizieren von Falun-Gong. Wer kann, strebt mit allen, auch den korruptesten Mitteln nach materiellem Reichtum oder Macht. China verkommt zu einer Menschenfressergesellschaft, und wer durch sein Schicksal stigmatisiert ist, wird Opfer der sich wandelnden unbarmherzigen Verhältnisse.


Den Hauptstrang des Romans aber bilden die Ereignisse auf dem Tian’an’men-Platz. Da ist die Vorgeschichte, das Leben im Schlafsaal auf dem Uni-Campus, die Suche nach der Freundin und nach einem ungestörten Ort für den Sex mit ihr (nicht zu finden!), das politische Geplänkel unter Freunden – und dann der tatsächliche Wunsch, den eigenen Gefühlen und kritischen Gedanken Ausdruck geben zu wollen, als der Reformer Hu Yaobang im April 1989 stirbt. Doch die Möglichkeit des Ausbruchs ist nicht unproblematisch. Schließlich haben viele der Studenten noch in Erinnerung, dass der erste, kurze Freiheitswind, der die „Mauer der Demokratie“ 1978 umwehte, zu Verhaftungen und die früheren Demonstrationen für Hu Yaobang 1987 zu Verfolgungen und zum Sturz des Reformers geführt hatten. Als die aufgewühlten Emotionen dann wirklich in eine Bewegung münden und der Platz des Himmlischen Friedens zu ihrer Bühne wird, ist keinem der Initiatoren klar, was für ein Stück eigentlich gespielt werden soll.


Ma Jian gelingt das Kunststück, dieses so weit gefasste Panorama der jüngeren chinesischen Geschichte mit erzählerischen Mitteln in einen Teppich zu verweben, dessen Strukturen man als Leser gebannt folgt. In der breiten Fläche der Erinnerungen vermischt sich die fiktionale Erzählung mit fast dokumentarisch geschilderten, realen Geschehnissen so, dass eine gefühlte Wahrheit entsteht. Vom extremen Ruhepol des annähernd toten Dai Wei aus betrachtet, werden fiktionale und reale Protagonisten lebendig und für den Leser erkennbar. Die chinesischen Machthaber sind beim Namen genannt, politische Akteure der Bewegung wie die Studentenführerin Zhai Ling, die Führer Wuer Kaixi oder Wang Dan mit im Roman kaum verschlüsselten Namen leicht zu identifizieren: Es ist die große Leistung dieses Buches, mit dem Kunstgriff der fiktional erzählten realen Geschichte in die verwirrte Psyche der aufbrechenden chinesischen Gesellschaft jener Zeit vorzudringen.


Der Autor belässt es jedoch nicht bei dieser quasi-chronistischen Ebene. Darüber liegt eine weitere, in der die jämmerliche körperliche Existenz des Komapatienten selbstanalytisch in einer expressionistisch anmutenden Wissenschaftssprache beschrieben wird. „Du reist durch die Gallenblase und gelangst zur Leberarterie. Stromaufwärts treibend fällt dein Blick auf das Herz, das im Dunkeln schwebt wie ein ferner Planet.“ Solche abstrakten Einschübe punktieren die Erzählung und bestimmen ihren Rhythmus. Diese verengte Innenperspektive ist gepaart mit den weitläufigen Phantasien des chinesischen „Klassikers der Berge und Meere“. Bezüge auf dieses alte, naturillusionistische Buch mit all seinen Fabelwesen durchziehen den Roman wie die lyrische Vision eines wilden, freien, gefährlichen China.


In seiner eigenen Biografie hat der jetzt 53-jährige Schriftsteller gerade dieses China intensiv gesucht. Ma Jian war Anfang der 1980er-Jahre, als die Kulturrevolution kaum ein paar Jahre vorbei und Chinas Öffnung erst zaghaft war, Fotograf für eine propagandistische Zeitschrift. Er trug – damals noch mit Dekadenz-Verdacht beargwöhnte – Jeans und verkehrte mit Malern und Dichtern. Sein lockerer Lebensstil und die unsägliche „Kampagne gegen geistige Verschmutzung“ verhagelten ihm die staatlich geförderte Pekinger Karriere. 


Ma Jian tat etwas für die damalige Zeit absolut Ungewöhnliches: Er verließ die Hauptstadt und reiste in die Peripherie, er forschte nicht mehr nur in seinem han-chauvinistischen Zentrum nach dem Herz und dem Geist Chinas. Seine Reise dauerte drei Jahre. Sie führte ihn lange Zeit nach Tibet, wo er sich unter anderem mit Haare-Schneiden durchschlug, einer Fähigkeit, die sich als autobiografischer Bezug neben vielen anderen bei Dai Wei wiederfindet. Auch die nach seiner Odyssee publizierte lange Erzählung „Streck deine Zunge raus“, in der er tibetische Lebensgewohnheiten in einer unfolkloristisch harten, damals als skandalös empfundenen Direktheit beschrieb, wird in „Peking Koma“ erwähnt.


Als verfolgter Autor konnte Ma Jian nicht in China bleiben. Er ging 1985 nach Hongkong und hat seitdem nie wieder längere Zeit in China leben können. Trotzdem kehrte er immer wieder zurück, so auch im Frühjahr 1989. Im Mai war er, der etwa zehn Jahre Ältere, zusammen mit den demonstrierenden, hungerstreikenden Studenten auf dem Tian’an’men-Platz. Er hat sie miterlebt, die Begeisterung, die Zweifel, die Machtkämpfe um die Führerschaft und die Diskussionen, was man eigentlich erreichen wolle. 


In „Peking Koma“ beschreibt er das unbändige Gefühl von Hoffnung, das eine junge, sich von den engen Fesseln des Maoismus befreit wähnende Generation trug. Aber er schildert auch den heftigen Streit um die Ziele der Bewegung, die alles hätte sein können: eine Kampagne gegen Korruption, gegen die Teuerung, gegen Polizeibrutalität, Medienzensur, Vetternwirtschaft, die Unterdrückung von Menschenrechten, überfüllte Studentenwohnheime. Oder aber der Kampf gegen die Partei, zumindest gegen die Hardliner wie Li Peng und Deng Xiaoping. Und vielleicht sogar einer für Freiheit und Demokratisierung. „Das chinesische Volk möchte nicht unter der Diktatur der Kommunistischen Partei leben“, behauptet im Buch Fang Li, eines der intellektuellen Idole der Bewegung. Dai Wei aber überlegt, ob seine Freunde es als Verrat ansehen würden, wenn sie wüssten, dass es ihm schon reichen würde, wenn es nicht mehr als Verbrechen angesehen würde, dass er mit seiner Freundin schlafen möchte.


Ma Jian hat das von 200.000 Soldaten umzingelte Peking am 28. Mai 1989 verlassen, um zu seiner Familie nach Shandong zu fahren. Er hat das Blutbad eine Woche später auf dem Platz nicht unmittelbar miterlebt. Bei einem – von der Geheimpolizei auf Schritt und Tritt überwachten – Besuch im Februar 2009 hatte er das Gefühl, den Platz sehen zu müssen. Aber er durfte ihn nicht einmal fotografieren. Stattdessen sprach er mit Chen Guang, einem Künstler und Fotografen, der damals selbst als 17-jähriger Soldat die Gewehre, mit denen die Studenten in der Nacht zum 4. Juni umgebracht wurden, heimlich in die Große Halle des Volkes an der Westseite des Platzes transportierte. Chen Guang hatte seine grauenhaften Erinnerungen nicht länger für sich behalten wollen und die Bilder, in denen er sie verarbeitete, ins Internet gestellt. Seine digitale Ausstellung wurde nach drei Tagen von der Zensur geschlossen. Tian’anmen ist im 60. Jahr der Volksrepublik China mit einem umfassenden Tabu belegt, im physischen wie im geistigen Sinne. Im kollektiven Bewusstsein ist das Massaker fast gelöscht. „Das chinesische Volk hat einen faustischen Pakt mit der Regierung geschlossen“, sagt Ma Jian dazu, „einen Pakt, bei dem es seine politische und intellektuelle Freiheit zugunsten materieller Sicherheit aufgibt.“


„Beijing Coma“ erschien auf Englisch im letzten Jahr in London, großartig übersetzt von Ma Jians Frau Flora Drew. Das chinesische Original wurde erst zum 4. Juni dieses Jahres gleichzeitig in Taiwan, Hongkong und Singapur publiziert. In der Frankfurter Rundschau berichtete Ma Jian kurz vor dem 20. Jahrestag am 4. Juni von seiner Arbeit an „Peking Koma“: „Ein Bild ging mir immer wieder durch den Kopf und hinderte mich am Schreiben: ein Mann, der nackt auf einem eisernen Bettgestell liegt, ein kleiner Vogel auf seinem Arm, ein kalter Lichtschein, der auf seine Brust fällt. Es hat mich zehn Jahre gekostet, um mir selbst über die Kraft und die Bedeutung dieses Lichtstrahls klar zu werden.“ Ma Jian hat das Tian’an’men-Tabu grandios gebrochen.
 



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