„Endlich sagen, was wir wollen“

Randa Jarrar

Freie Zeit. Was Menschen tun, wenn sie nichts zu tun haben (Ausgabe IV/2009)


Wie Ihre junge Heldin Nidali, auf Deutsch: „mein Kampf“, sind Sie in Kuweit aufgewachsen und mit Ihrer Familie in die USA emigriert. Gab es in Ihrem Leben Kämpfe, die Sie zum Schreiben Ihres Buchs animiert haben?
Absolut. Als ich nach dem ersten Golfkrieg mit meiner Familie in die USA zog, musste ich dort von vorn anfangen. Meine erste Identität als arabisches Mädchen war ausgelöscht. Zudem belastete mich die Erfahrung des Kriegs. Mit dem Buch wollte ich mir meine Kindheit zurückerobern und zeigen, was Exil und Entwurzelung bedeuten.

In Ihrem Roman beschreiben Sie die Beziehung von Nidalis Eltern als „Mama-Baba-Schlacht“ mit Gefechten und Feuerpausen. Nidalis Mutter wirft auch gerne mit obszönen Schimpfwörtern um sich. 
Ich hatte genug davon, dass muslimische Frauen in der Literatur, im Film und in den Nachrichten immer als klein und schwach dargestellt werden. Ich selbst bin inmitten sehr starker Frauen aufgewachsen, die keine Scheu hatten, zu sagen, was sie denken. Nidalis Mutter sollte so eine starke und kreative Frau sein.

In Nidalis Familie gibt es trotzdem viel Gewalt. Mutter und Tochter werden vom Vater geschlagen. Einmal setzt der Vater die Mutter in der Wüste aus. Hatten Sie keine Bedenken, negative Vorurteile über die arabische Familie aufzugreifen? 
Doch, ich hatte meine Bedenken. Umso mehr, weil ich meinen Roman im August 2001 begonnen habe, also kurz vor dem 11. September. Mehr als alles andere aber wollte ich ehrlich sein. Ich sage nicht, dass es in jeder arabischen Familie Gewalt gibt, aber in 80 Prozent der Familien, die ich in Kuweit kannte, war es so. Das betraf nicht nur die Frauen. Auch jeder Junge wurde von seinem Vater geschlagen. Gewalt sollte man nicht aus Scham unter den Teppich kehren. 
 
Nidali darf nicht mit Jungen sprechen und in den US-amerikanischen Fernsehserien, die sie in Kuweit sieht, fehlen die Kussszenen. Trotzdem knutscht sie im Kino, masturbiert und ergreift als Teenager die Initiative zum ersten Sex.  
 Nidali rebelliert gegen die Vorstellung, dass Sexualität oder der Wunsch, sie vor der Ehe zu erleben, unnatürlich ist. Sie möchte ausprobieren, was als schlecht und verdorben gilt, weil es sich gut anfühlt. Sie genießt es einfach, ihren Körper zu entdecken. Damit lehnt sie sich nicht nur gegen den strengen Vater auf, sondern auch gegen ihre Kultur, die Sexualität für etwas Unanständiges hält. 
 
Obwohl Nidali offen über Sex spricht, bleibt sie Jungen gegenüber aber auf Distanz und beschließt, sich nie zu verlieben. Warum? 
Sich zu verlieben, ist für Nidali gleichbedeutend mit Ehe und das wiederum heißt, nicht mehr für sich selbst sprechen zu können. Mit diesem Bild wächst sie auf. Nidali möchte ihre Träume verwirklichen, Schriftstellerin werden und selbstständig sein. Also nicht vom Vater direkt zu einem Ehemann ziehen. Als sie in Ägypten sieht, wie ihre Tante ins Hochzeitskleid schlüpft, denkt sie: „Von außen wunderschön, aber eigentlich ziemlich unbequem.“ Und so sieht sie auch die Ehe. Liebe ist für sie eine Falle. 
 
Nidali beteuert, sie wolle nie werden wie ihre Mutter. Steht Ihre Heldin für eine neue Generation arabischer Frauen?
Ja. Einerseits symbolisiert sie eine neue Generation, weil sie ihre eigenen Vorstellungen von Sexualität und Familie hat, die nicht mit der muslimischen Tradition im Einklang sind. Andererseits ist sie einzigartig, weil sie im Gegensatz zu ihren Altersgenossen keine Angst hat, ihre Gedanken auch auszusprechen. 
 
Als der Irak Kuweit überfällt, vergessen Nidalis Eltern den 13. Geburtstag ihrer Tochter. Und auf der Flucht aus dem Land beklagt sich Nidali in einem Brief an Saddam Hussein über ihr verpfuschtes Liebesleben. Was macht der Krieg mit der Privatsphäre?
Das Privatleben wird durch Krieg in den Schatten gestellt. Die Welt interessiert sich nicht für deine Bedürfnisse. Im Krieg geht es nicht um einzelne Menschen, sondern um Macht. Ich wollte hervorheben, dass hinter Präsidenten und Panzern, die man in den Nachrichten sieht, viele kleine Geschichten stecken. Krieg ist für Nidali wie eine lächerliche Show. Die bitteren Kämpfe finden in ihrer Familie statt. 
 
Nidali spricht mit ihren Freunden im Exil nicht über ihr verlorenes Zuhause in Kuweit – die Erinnerungen sind zu schmerzhaft. Wie schwer fällt es Ihnen, sich literarisch mit dem Krieg zu konfrontieren?
Es tut weh, das zu tun, aber gleichzeitig ist genau das der Grund, warum ich darüber schreibe. Je mehr ich in meinem Buch erfinde, umso besser kann ich mich in diese dunklen Erfahrungen hineinbegeben. Indem ich sie literarisch verarbeite, verhindere ich, dass sie mein Leben bestimmen. 
 
Ihr Buch wurde noch nicht ins Arabische übersetzt. Rechnen Sie mit negativen Reaktionen?
Wissen Sie, ich war noch nie brav. Es ist gut, wenn Leute sich aufregen. Ich möchte ihre empfindlichen Stellen treffen. Nicht nur die Frauen, sondern auch die Männer im Nahen Osten haben genug von Diktatur und Vormundschaft. Es ist Zeit, zu sagen, was wir wollen. Bisher hat dies niemanden beleidigt – abgesehen von meinen Eltern.

Das Gespräch führte Carmen Eller



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