Stadt am Limit

von Eun-jee Park

Kauf ich. Ein Heft über Konsum (Ausgabe IV/2014)


Seoul platzt aus allen Nähten. Die südkoreanische Hauptstadt hat die höchste Bevölkerungsdichte von allen größeren Städten der OECD. 2013 betrug sie rund 16.500 Menschen pro Quadratkilometer. Zahlreiche Probleme ergeben sich daraus für die Zehn-Millionenstadt: Platzmangel, Umweltverschmutzung und ein übermäßiger Energie- und Ressourcenverbrauch. Seouls Stadtregierung sucht deshalb seit drei Jahren ihr Heil in der Sharing Economy. Breit gefächert ist das von offizieller Seite geförderte Angebot von Sharing-Diensten für die Einwohner: Neben Gemeinschaftsbüros und Car-Sharing gehören auch geteilte Bücher und weitergegebene Kinderkleidung sowie Börsen für Kochrezepte und Babyernährungs­tipps dazu. Seouls Stadtregierung unterstützt gegenwärtig fünfzig Unternehmen, die verschiedene Arten des Teilens anbieten. Als „Sharing City Seoul“ wurde das Projekt von Oberbürgermeister Won-Soon Park bei seiner Amtsübernahme 2011 ins Leben gerufen.

Manche der neuen Dienstleistungen werden in Zusammenarbeit mit den Bezirksämtern direkt von der Stadtverwaltung angeboten. Zu den ambitioniertesten Initiativen gehört ein besonderer Mietservice, der Senioren, die ungenutzte Räume haben, und Studenten auf Wohnungssuche zusammenbringt. Den Letzteren soll so eine günstigere Unterkunft ermöglicht werden, die Senioren können durch die Nebeneinkünfte ihre Rente aufbessern. Viele ältere Leute verfügen über leerstehende Räume in ihren Häusern, da ihre erwachsenen Kinder bereits ausgezogen sind. Für junge Leute, die aus anderen Regionen Koreas zum Studieren in die Stadt kommen, ist es ein großes Problem, eine erschwingliche Unterkunft zu finden, nicht zuletzt wegen der hohen Immobilienpreise in Seoul.

„Wir vermitteln zwischen Älteren, die in ihrem Haus ein Zimmer zu vergeben haben, und Studenten, die im gleichen Bezirk die Universität besuchen“, sagt Jeong-ah Kim, ein Beamter der Abteilung für Soziale Innovation in der Stadtverwaltung. Ein Zimmer kostet 250.000 Won pro Monat, ungefähr 185 Euro. Das ist nur die Hälfte des üblichen Mietpreises von Einzimmerwohnungen in Seoul. Im Gegenzug sollen die Studenten den Senioren fünf Stunden pro Woche im Haushalt helfen. „Aber in dem Maße, wie Senioren und Studenten sich näherkommen“, ergänzt Kim, „helfen die jungen Leute meist über das festgesetzte Stundenmaß hinaus.“

Ein anderer Pfeiler des Sharing-City-Projekts besteht in der Vernetzung verschiedener Car-Sharing-Dienstleister auf einer Onlineplattform der Stadt. Außerdem verteilt die Stadtverwaltung städtische Parkplätze an die Car-Sharing-Unternehmen, sodass diese Kosten sparen können. Nicht alle Unternehmen haben Anspruch auf diese Unterstützung. „Wir evaluieren die Erfolgsbilanz der Firmen, ihre finanzielle Lage und Statistiken zur Kundenzufriedenheit“, sagt Song Hak-Yong von der Abteilung für Soziale Innovation. Eine weitere Sharing-Initiative ist das Teilen von privatem Parkraum. Auf einer Website geben Anwohner die Zeitabschnitte an, in denen ihr eigener Parkplatz frei sein wird. Andere Autofahrer können dann einen Abschnitt reservieren und ihr eigenes Fahrzeug auf dem fremden Parkplatz abstellen.

Trotz der offiziellen Bemühungen haben noch immer viele Einwohner Seouls keine Ahnung von den verschiedenen Initiativen des Sharing-City-Projekts. „Ich besuche die Yonsei-Universität im Seodaemun-Bezirk“, sagt Kim Han-Young, eine 23-jährige Studentin. „Da ich aus Busan komme, brauchte ich dringend eine erschwingliche Unterkunft.“ Das Programm der geteilten Seniorenhäuser werde ihrer Meinung nach viel zu wenig beworben: „Viele meiner Freunde wissen kaum etwas darüber.“ Die Stadtregierung räumt ein, dass sie über das Programm umfangreicher informiert müsse, um die Bürger in großem Stil zum Mitmachen anzuregen. „Im Moment befinden wir uns noch in der Einführungsphase und ich glaube, die Leute haben sich noch nicht an die Idee gewöhnt, ihr Eigentum zu teilen“, sagt Hak-Yong Song. „Aber wir planen eine groß angelegte Werbekampagne für die verschiedenen Sharing-Dienste, um möglichst viele Leute dafür zu begeistern.“

Aus dem Englischen von Constantin Hühn



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