Permanentes Networking

von Renata Salecl

Kauf ich. Ein Heft über Konsum (Ausgabe IV/2014)


Kurz nachdem der amerikanische Schauspieler Robin Williams vor ein paar Jahren seine Alkoholtherapie beendet hatte, entwarf er eine Stand-up-Comedy mit dem Namen „Waffen der Selbstzerstörung“. In einer Folge der Show dachte er über den äußerst hohen Medikamentenkonsum der amerikanischen Gesellschaft nach und kam zu dem Schluss, dass das ganze Land in den vergangenen zehn Jahren auf den Drogen Prozac, Effexor und Valium gewesen sei. Die USA würden nur langsam aus dem Drogenrausch erwachen und das Einzige woran sie sich erinnerten, sei „die gut laufende Wirtschaft und der Haushaltsüberschuss“.

Vor ein paar Wochen erlag Robin Williams selbst den Waffen der Selbstzerstörung. Er nahm sich das Leben. Die Medien rätselten, ob er wieder dem Alkohol verfallen war, an einer Depression oder sogar an einer bipolaren Störung litt.

Das Problem moderner Konsumgesellschaften ist, dass immer mehr Menschen auf die Abwege der Selbstzerstörung geraten. Es handelt sich um eine Gesellschaft, die an der „Qual der Wahl“ leidet und auf der Wunschvorstellung fußt, dass jeder von uns etwas erreichen kann, solange wir nur hart genug an uns arbeiten. Das ständige Treffen von „richtigen“ Entscheidungen führt in einer Welt von unendlich vielen Möglichkeiten zu einem deutlichen Anstieg an Unbehagen, Schuldgefühlen und selbstzerstörerischen Gedanken.

Während es in einer Konsumgesellschaft massiv um die Idee des Glücks geht, fühlen sich viele Menschen jedoch immer unwohler. Die französische Psychoanalytikerin Brigitte Balbure betont, dass sie noch nie so viele Patienten gehabt hat, deren psychisches Leben aufgrund von Problemen am Arbeitsplatz aus dem Gleichgewicht geraten ist. Viele Leute bekommen beispielsweise ein Jobangebot, das anfangs sehr vielversprechend klingt. Noch bevor sie den Vertrag unterschreiben, werden ihnen gute Beförderungsaussichten versprochen; die zukünftigen Chefs machen aber auch deutlich, dass sie sich erst einmal durch harte Arbeit beweisen müssen.

Nachdem sie dann ihr Arbeitsverhältnis aufgenommen haben, bekommen sie plötzlich immer mehr Aufgaben zugeteilt, die sie erfüllen müssen. Außerdem sind unbezahlte Überstunden gang und gäbe. Wenn sie nach einer Weile eine Gehaltserhöhung fordern, werden sie nur mit dem Vorschlag von noch mehr Überstunden oder von dubiosen Bewertungsverfahren abgespeist. Kommen sie nach ein paar Monaten mit derselben Forderung wieder, wird ihnen dann oftmals nahegelegt, das Arbeitsverhältnis auf „freundschaftlicher“ Basis zu beenden. Die Arbeitnehmer, die bei wechselnden Arbeitgebern immer wieder mit diesem Problem konfrontiert sind, werden schnell depressiv.

In Großbritannien leidet ein Fünftel der Bevölkerung an Depressionen. Unter Männern, die jünger als fünfzig Jahre alt sind, ist Selbstmord – vor Autounfällen, Krebs und Herzkrankheiten – die häufigste Todesursache. Zwei Drittel der Menschen, die an Depressionen leiden, bekommen keine ärztliche Behandlung. Simon Wessely, der Vorsitzende des Berufsverbandes für Psychiatrie in London, stellte kürzlich die Frage, wie die Briten reagieren würden, wenn zwei Drittel der krebsleidenden Menschen ohne ärztliche Behandlung auskommen müssten?

Auch die britische Psychoanalytikerin Susie Orbach weist darauf hin, dass die Mehrheit ihrer Patienten mit Beziehungsproblemen zu kämpfen hat, seien sie partnerschaftlicher, freundschaftlicher oder beruflicher Art. Immer mehr Menschen haben heutzutage ein Problem damit, sich auf Beziehungen einzulassen. Sie verspüren zwar den Wunsch, jemandem nahe zu sein, gleichzeitig aber packt sie die Panik davor. Auch mit ihren Arbeitskollegen haben viele Menschen zu ringen. Beziehungen in diesem Umfeld werden immer mehr als etwas Pragmatisches gesehen. Oftmals auch als etwas, das man perfektionieren kann, indem man im besten Fall die hohe Kunst des Networking erlernt.

Der britische Anthropologe David Leitner entschloss sich, die Veränderungen der heutigen Geschäftsbeziehungen zu studieren, indem er ein Networking-Seminar besuchte. Die Teilnehmer wurden zuerst angewiesen, ein Netz mit all ihren Beziehungen zu zeichnen, in dem die Namen ihrer Bekannten, Arbeitskollegen und Freunde miteinander in Verbindung standen. Danach lernten sie, die Anzahl ihrer Kontakte zu maximieren, um schließlich  von diesem riesigen Menschenpool bestmöglich profitieren zu können. Jeder Bekannte wird als potenzielles Sprungbrett zu einem höheren Nutzen betrachtet. In einem solchen Netzwerk werden Menschen als Objekte gesehen, die neue Türen öffnen oder neue Beziehungen etablieren und uns in unvorhergesehener Zukunft nützen könnten. Deshalb lautet die goldene Regel für den guten Netzwerker: „Auf keinen Fall darf man von flüchtigen Bekannten vergessen werden!“ Die Teilnehmer eines Networking-Seminars lernen folglich, wie man mit Leuten in Kontakt bleibt, die man nur kurz getroffen hat, wie man beispielsweise kleine Geschenke macht, indem man wichtige Informationen per E-Mail verschickt, ohne dabei durchklingen zu lassen, dass man gleich eine Gegenleistung erwartet.

Menschen haben schon immer eine Art Beziehungsnetz gehabt und natürlich davon profitiert, viele verschiedene Leute zu kennen. Als wir jedoch anfingen, dieses Beziehungsnetz „Networking“ zu nennen, veränderte sich die Art und Weise, wie Menschen miteinander umgehen. Die Pflege von menschlichen Beziehungen wurde erstens als eine Art Fähigkeit angesehen, die einem nicht in die Wiege gelegt wurde, sondern die man sich mit viel Fingerspitzengefühl aneignen muss, um die gewünschten Ergebnisse zu erzielen. Zweitens wurden andere Menschen, mit denen wir in Beziehung stehen, immer mehr als etwas angesehen, das man manipulieren kann. Das Problem ist hier nicht nur, dass solche Manipulationen selten die gewünschten Effekte erzielen, sondern dass wir früher oder später merken, wie wir regelrecht zu einem Objekt für mögliche Manipulationen von anderen Networkern werden.

Schon immer haben sich Menschen über die folgenden Fragen den Kopf zerbrochen: Wer bin ich für andere? Wie werde ich von anderen wahrgenommen? Welches ist mein gesellschaftlicher Status? Eine Konsumgesellschaft geht stark von der Illusion aus, dass man diese Fragen beantworten kann, solange man nur gut genug darin wird, Beziehungen herzustellen. Außerdem bekommt man oft den Eindruck, dass in einer Gesellschaft, die so sehr von der „Qual der Wahl“ abhängt, rationale Entscheidungen oftmals auch auf der Beziehungsebene getroffen werden. Dieses geschieht aber immer in der Hoffnung, dass Beziehungen, deren Fundament das Kalkül ist, auch die gewünschten Resultate wie zum Beispiel Glück und Erfolg mit sich bringen. Menschen in einer Konsumgesellschaft verfallen auch schnell auf die Idee, dass sie sogar lernen können, von anderen gemocht zu werden oder von anderen die Antworten zu bekommen, die sie sich erhoffen. Wenn dieses jedoch nicht eintrifft, dann geben sie sich schnell selbst die Schuld daran. Sie haben entweder nicht hart genug gearbeitet oder sie haben die falsche Entscheidung getroffen.

Ein anderes Paradoxon unserer modernen Konsumgesellschaft ist, dass das, was zuerst als nützlich für das Wohlergehen der Menschen angesehen wird, sich später oftmals zu einer Abhängigkeit entwickelt. Wenn wir auf der einen Seite Kurse haben, in denen man das richtige Networking lernt, um geliebt zu werden, haben wir auf der anderen Seite Seminare, die uns zeigen, wie man sich aus der Abhängigkeit von anderen befreit.

Eine Konsumgesellschaft schwingt auf vielfältige Weise zwischen einem Zuviel und einem Zuwenig. Als Konsumenten sollen wir immer auf der Suche nach neuen Objekten zum Konsumieren sein. Konsumieren wir zuviel, werden wir aber schnell dafür beschuldigt. Wir mögen sogar als kaufsüchtig diagnostiziert werden.

Eine Konsumgesellschaft ist auf Menschen mit unstillbaren Bedürfnissen angewiesen, auf Menschen, die dazu neigen, in Abhängigkeit von bestimmten Objekten und Substanzen zu geraten. Gleichzeitig aber wird jede Art von Sucht als Moralversagen angesehen, als mangelnde Selbstkontrolle und Unfähigkeit, die richtigen Entscheidungen zu treffen. Nichtsdestotrotz suchen viele Leute in den verschiedensten Drogen Zuflucht, in der vagen Hoffnung, die Zumutungen des Lebens in der Konsumgesellschaft vergessen zu können.

Aus dem Englischen von Jan Weber



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