Was für eine Idee!

von Susan Neiman

Zweifeln ist menschlich. Aufklärung im 21. Jahrhundert (Ausgabe IV/2011)


Die Frage, ob es Fortschritte seit der Aufklärung gegeben habe, ist leicht zu beantworten. Wenn wir – nicht unstrittig, aber auch nicht willkürlich – das ausklingende 18. Jahrhundert als Ende des Zeitalters der Aufklärung betrachten, dann müssen wir nur eine Liste machen. Seit 1800 wurde die Sklaverei großenteils abgeschafft, öffentliche Folter und Hinrichtungen verboten, Bürgerrechte gestärkt und die Frauenemanzipation vorangetrieben. Es stellt sich mir eher die Frage: Welcher Fortschritt geht nicht auf die Aufklärung zurück?

Denn all dies waren Forderungen, die zuerst von den Denkern der Aufklärung erhoben wurden. Sie gründeten auf dem Konzept allgemeingültiger Menschenrechte, das auf jüdisches und christliches Gedankengut zurückgehen mag, aber erst mit der Unabhängigkeitserklärung Amerikas klar formuliert wurde: „Folgende Wahrheiten erachten wir als selbstverständlich: dass alle Menschen gleich geschaffen sind dass sie von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräußerlichen Rechten ausgestattet sind dass dazu Leben, Freiheit und das Streben nach Glück gehören“. Hier haben wir ein ausgezeichnetes Beispiel für frühe Globalisierung: Thomas Jefferson benutzte 1776 abstrakte Ideen, denen er vor allem in Paris begegnet war, und schrieb sie in die Geschichte ein 13 Jahre später stützte sich im Gegenzug dann Marquis de Lafayette in seinem Entwurf der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte erheblich auf die amerikanische Unabhängigkeitserklärung.

Es lässt sich leicht sagen, was oder besser wer in den ursprünglichen Proklamationen ausgelassen wurde: Frauen und Sklaven bleiben unerwähnt. Ein großer Teil des Fortschritts der letzten 200 Jahre besteht darin, sie mit einzuschließen. Afro-amerikaner erlangten 1965 volle Bürgerrechte, 1971 durften Schweizer Frauen zum ersten Mal wählen. Diktaturen gelten seit 1948 als Verstoß gegen die Menschenrechte. Die Errichtung eines Internationalen Gerichtshofs ist aber „work in progress“ (noch in Arbeit). Der englische Ausdruck spielt direkt auf den Fortschritt an und unterstreicht einen Anspruch, den viele Nationen als selbstverständlich erachten: Wir akzeptieren ein System von Idealen, welches das Leben der Menschen verbessern und sie befreien soll, und wir arbeiten zusammen daran, es zu verwirklichen.

Bis vor Kurzem zweifelten viele Aufklärungskritiker daran, ob diese Ideale universell seien. Doch die Bereitschaft junger Menschen von Kairo bis Peking, ihr Leben für Aufklärungsideale zu riskieren, die sie in anderen Ländern besser umgesetzt sehen, sollte die Behauptung, jene Ideale seien lediglich westliche, Lügen strafen. Vielmehr war es gerade die Aufklärung, die zum ersten Mal auf das Problem des Eurozentrismus aufmerksam machte und betonte, wie viel Europa vom Rest der Welt zu lernen hatte: Montesquieus Achtung vor dem Islam, Voltaires Bewunderung für Konfuzius und Rousseaus Anregung, von Afrika zu lernen, waren Vorboten der Forderung, andere Nationen mit einzubeziehen. Auch wenn die Untersuchung anderer Kulturen in jener Zeit im Vergleich zu heute naiv oder gar herablassend scheint, ist dies nur wieder ein Beispiel des Fortschrittes, der auf den Grundfesten der Aufklärung beruht.

So wie es leichtfällt, die Fortschritte in der Erweiterung der Menschenrechte zu erkennen, so fällt es zunehmend schwer, die Kühnheit der ursprünglichen Ansprüche zu schätzen. In ihrer Entstehungszeit war nicht einmal selbstverständlich, dass alle weißen Männer gleich geschaffen sind die meisten hielten es sogar für offenkundig falsch. Wir haben vergessen, was es bedeutet, in einer Welt zu leben, in der das Leben notwendigerweise dem Leben der Eltern folgte, in der die Idee, dass jedem Talentierten eine Karriere offenstehen sollte, kein Leitgedanke war, geschweige denn eine Praxis. Jede sozialdemokratische Kritik an der Kluft zwischen Grundrechten und Umsetzung – zum Beispiel in der Debatte über Bildungschancen – fußt auf Prinzipien, die wir so sehr verinnerlicht haben, dass wir ihre Radikalität gar nicht mehr wahrnehmen. Mit der mutigen Ausrufung des Ideals der Gleichstellung als grundsätzlicher Forderung schuf die Aufklärung den Rahmen, der es den Nachkommen ermöglichte, dieses Ideal zu verwirklichen, wie lange das auch immer dauern mag.

Wenn der Großteil des Fortschrittes seither darin bestand, die zuvor Vergessenen einzubeziehen, kam die bedeutendste konzeptuelle Erweiterung von Marx. Seine frühen Werke lassen sich als Kritik der aufklärerischen Abstraktion lesen: Die Ideale der Aufklärung lassen sich bestenfalls nur eingeschränkt erreichen, wenn man die materiellen Bedingungen unberücksichtigt lässt. Die Aufklärung vertrat die freie Meinungsäußerung ohne zu bedenken, dass die Redefreiheit desjenigen, der von einer Holzkiste aus spricht, zwar formal gleichwertig ist mit der Redefreiheit eines Publizisten, der Zugang zu einer Druckerpresse hat, aber dass die Freiheit des Letzteren dennoch unendlich mehr Geltung hat. Das Internetzeitalter hat diese tiefe Wahrheit zwar abgeschwächt, aber kaum widerlegt: Welcher Blogger würde seinen Monitor nicht sofort gegen eine Stunde Sendezeit bei einem großen Fernsehsender eintauschen?

Marx’ Erkenntnisse über den relativen Wert der Freiheit und die materielle Basis des Glücks wurden von europäischen Sozialdemokratien bei Weitem besser umgesetzt als von deren amerikanischem Pendant. Auch wenn beide Kontinente anerkennen, dass die Aufklärungsideale, auf denen ihre Nationen beruhen, nicht ohne die umfassende Förderung eines öffentlichen Bildungswesens funktionieren, so betrachtet nur eine Seite des Atlantiks Gesundheit und Wohnung als materiell abzusichernde, grundlegende Menschenrechte.

Wir würden die Idee des Fortschritts selbst ohne die Aufklärung gar nicht verstehen. Gerne werden ihre Errungenschaften mit dem Verweis auf Auschwitz konterkariert. Das zielt darauf ab, die angebliche Aufklärungsvorstellung, aus der Vergangenheit folge notwendigerweise eine bessere Zukunft, zu diskreditieren. Jedoch ist dem 18. Jahrhundert so ein Unfug nie in den Sinn gekommen. Die besten Denker jener Zeit widmeten der Natur des Bösen einen Großteil ihrer Arbeit. Erst Intellektuelle des 19. Jahrhunderts wie Hegel oder Comte räumten dem Traum von stetiger Verbesserung ein wenig Raum ein. In der Zeit der Aufklärung galt der Fortschritt nie als unausweichlich, nur als möglich. Die Tatsache, dass Menschenrechte immer noch verletzt werden und die Folter auch in entwickelten Ländern, deren Verfassungen von Aufklärern geschrieben wurden, wieder praktiziert werden kann, zeigt nur eines: Wenn der Fortschritt möglich ist, so ist es auch der Rückschritt. Es liegt in der Hand von Männern und Frauen, welcher Weg beschritten wird.

Wenn ich den technischen Fortschritt übergangen habe, dann hauptsächlich deshalb, weil er in zu vielen Debatten über die Aufklärung im Mittelpunkt steht. Wahr ist, dass die Aufklärer Wissenschaft und Technik als Motor des Fortschritts sahen, aber nie als Selbstzweck. Wissenschaft und Technik dienten dazu, den eigentlichen Fortschritt zu fördern: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Eine gängige, wenn auch offensichtliche These heute ist: Wissenschaft und Technik haben nicht nur Nutzen gebracht, sondern auch Zerstörung. Das ist aber nur dann ein gültiger Einwand, wenn man Wissenschaft und Technik als Selbstzweck versteht. Andererseits verdrängen vermutlich jene, welche die Schattenseiten der Wissenschaft beklagen, das Sinken der Sterblichkeitsraten, mit dem eine um durchschnittlich 50 Prozent längere Lebenszeit einher geht.

In einer Epoche, in der Pessimismus angesagt ist, wird jeder der Naivität beschuldigt, der darauf besteht, dass die Menschheit Fortschritte gemacht habe. Dass die Menschheit auch zu Ungeheuerlichkeiten wie dem Imperialismus des 19. und dem Völkermord des 20. Jahrhundert fähig war, ist nicht gerade eine Neuigkeit. Das sind Ereignisse, die man nie vergessen darf, aber es ist nicht mehr nötig, sich ständig ihrer zu erinnern, denn sie sind allgegenwärtig. Ins Gedächtnis zurückrufen sollte man dagegen, dass die Menschheit sich hier und da der Freiheit und der Brüderlichkeit angenähert hat. Das Publikum, das einst Eintrittskarten kaufte, um der Streckung und Vierteilung eines Verurteilten beizuwohnen, geißelt heute sogar humane Hinrichtungsformen als barbarisch. Michelle Obama, eine Urenkelin von Sklaven, wohnt jetzt im Weißen Haus. Nur so lässt sich der Fortschritt, der durch die Ideale der Aufklärung möglich wurde, weiterführen: Wir müssen anerkennen, dass es durch menschliches Bemühen Verbesserungen gegeben hat, und darin den Ansporn finden, um uns weiter anzustrengen und weiter voranzukommen. 

Aus dem Englischen von Elisabet Richter



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