Wer sich heute für die Ideen der Aufklärung einsetzt, riskiert es, als naiv belächelt zu werden, als letzter Getreuer einer universellen Ideologie, deren Töchter, die großen politischen Glaubensbekenntnisse des 19. und 20. Jahrhunderts, längst auf der Mülldeponie der gescheiterten Ideen verscharrt wurden.
Die Aufklärung habe sich selbst ad absurdum geführt, argumentierte Foucault, der Vorreiter einer postmodernen Ideologiekritik, die in Idealen bloßen Machterhalt und damit implizit Gewalt diagnostizierte. Eine Generation früher hatten schon Horkheimer und Adorno in der „Dialektik der Aufklärung“ grundlegende Kritik an der Aufklärung von einer anderen Perspektive geübt. Die blinde Anbetung der Vernunft hatte die Menschen nicht etwa aus ihrer selbstverschuldeten Unmündigkeit befreit, sondern hatte ihre eigene Art von Diktatur geschaffen, die totale Rationalisierung und Kommerzialisierung des Lebens.
Charlie Chaplins „Moderne Zeiten“ waren im Kielwasser der Vernunft längst soziale Realität geworden und sogar die Gleise, die nach Auschwitz führten, konnten nur nach streng rationalen Prinzipien produziert, verlegt und befahren werden. Mehr noch: Ein Lagerkommandant, der Bach spielte, ein SS-Offizier, der Gedichte rezitierte, und ein Martin Heidegger, der sich für völkische Universitäten einsetzte, waren Beweise dafür, dass der Humanismus gescheitert war, dass aufgeklärtes Gedankengut und Kultur die Menschen nicht menschlicher machte. Eine Kultur aber, die ihr Publikum nicht zu besseren Menschen machte, war nichts anderes als eine Form von Unterhaltung.
„Nieder mit der Hochkultur!“ wurde zum Schlachtruf einer neuen kulturellen Elite, die sich auf Staatskosten kokett als gefährlich nihilistisch gab und den Bildungsbürgern im Parkett wohlig masochistische Schauer über den Rücken laufen ließ. Das postideologische Zeitalter wurde zum Zeitalter des totalen Entertainments, in dem einzig der Markt gültige, weil zweifelsfrei bezifferbare Werte vermittelte.
Es ist eine Ironie der Geschichte, dass die Demontierung dieser vollklimatisierten Erlebniswelt zwischen Börse und Wellness-Hotel gerade bei diesen, den finanziellen Werten ansetzte. Was ist Geld wert, wenn der unerbittliche Zyklus von Boom und Bust einer Börse, eines Wettclubs, der sich kollektiv in hys-terische Fantasien hineinsteigert, nur um diese dann plötzlich fallenzulassen, riesige Konzerne und nominell gehandelte Milliarden innerhalb von Sekunden schaffen und vernichten kann? Die Fiktion des objektiven, unideologischen Marktes widerlegte sich selbst durch ihren eigenen Erfolg. Wenn eine Fabrik, die 20.000 Menschen in Brot hält, nicht mehr wert ist als eine Chat-Plattform, die nichts produziert und nur im virtuellen Raum besteht, dann entpuppt sich Geld lediglich als Währung kollektiver Illusionen.
Es ist schwieriger geworden, an das Regulativ der „unsichtbaren Hand“ zu glauben, das Adam Smith als heimliche Macht hinter einer ausgewogenen Gesellschaft und Wirtschaft sah. Gleichzeitig aber glauben wir implizit noch immer an eine unsichtbare Hand, die unsere Leben lenkt, denn vor der Banalität der Konsumgesellschaft und der Kälte der wissenschaftlichen Weltsicht suchen zahllose Menschen Zuflucht in der Wärme einer handgestrickten Spiritualität oder den Sinnversprechen traditioneller Rituale. Fast die Hälfte aller deutschen Gymnasiasten glaubt heute an Gott.
Aber es ist nicht nur die offizielle Religion, die sich wieder etabliert es sind die tiefen Strukturen des religiösen, genauer gesagt des christlichen Denkens, die oft unreflektiert weitergetragen werden, etwa wenn Politiker über Europas „jüdisch-christliches Erbe“ sprechen, um sich von Migranten abzugrenzen, so, als gäbe es kein dezidiert kosmopolitisches antikes Erbe in unserer Kultur und keine Aufklärung. Wenn ein deutscher Kardinal Abtreibungen einen „täglichen Super-GAU“ nennt und sagt, dieses Thema sei wichtiger als nukleare Katastrophen, so spricht er aus einer Theologie heraus, die in jedem befruchteten Ei einen Menschen sieht, weil bereits eine Seele mit den Zellen verbunden sei.
Aber nicht nur religiöse Würdenträger folgen theologischen Argumenten. Das christliche Denken ist ein alter Reflex unserer Kultur und dominiert immer noch die Debatten über Gentechnik, aktive Sterbehilfe und Stammzellenforschung. Man solle „nicht Gott spielen“ ist ein immer wieder verwendetes Argument gegen genetische Forschung und Therapien, das Leben sei „heilig“ – aber, könnte man mit Seneca fragen, warum soll ein Mensch nicht das Recht haben, sich sein Ende selbst zu wählen, und auch Hilfe dabei bekommen, gerade in einer Zeit, in der die Medizin zu erfolgreich darin geworden ist, Lebensfunktionen aufrechtzuerhalten, ohne Lebensqualität und Würde gewährleisten zu können? Ob versteckt in einem bürgerlichen Anzug, im Bobo-Chic oder in der Uniform der Revolutionäre, die Theologie bestimmt noch immer unsere Ideen über unsere Zukunft, die in den Medien als apokalyptisch dargestellt wird. Sie verleitet uns dazu, vor den Ikonen der Werbung auf Diät zu gehen, wie unsere Vorfahren vor Heiligenstatuen gelobt haben zu fasten, der christliche Körperhass wirkt nach, wenn man in Hollywood-Filmen aus Gründen des Anstands keinen Menschen nackt sehen darf, wohl aber einen, der zu Tode gefoltert wird.
Ohne es zu realisieren, stecken unsere Kultur und ihre Gespräche mit sich selbst und anderen tief in der Furche, die über Jahrhunderte der kirchlichen Herrschaft in unsere Hirne gepflügt wurde. Das ist nicht so, weil wir die Aufklärung verstanden und hinter uns gelassen haben, sondern weil unsere gesellschaftlichen Diskussionen auf halbem Wege stecken geblieben sind, denn die moderate Aufklärung, die zum Kanon des Abendlandes wurde, geht selbst nicht weiter. Voltaire und Kant taten wenig mehr, als den Glauben ihrer Väter vom ärgsten Aberglauben zu befreien. Beide glaubten nicht nur an einen Schöpfergott, sondern auch an eine hierarchische Gesellschaft und an eine Vernunft, die jenen Ort in ihrem Denken einnahm, den früher einmal die Seele innegehabt hatte.
Aber diese moderate, deistische Aufklärung ist nicht die einzige. Die radikaleren, kompromisslosen Denker unter den französischen philosophes allerdings wurden schon zu Lebzeiten konsequent marginalisiert – auch weil ihre Ideen nicht mit dem rabiaten und autoritären Kapitalismus des 19. und den messianischen politischen Ideologien des 20. Jahrhunderts vereinbar waren. Philosophen wie Denis Diderot, Paul Thiry d’Holbach, Claude Helvétius und Jean Meslier beschrieben um die Mitte des 18. Jahrhunderts den Menschen als intelligente Tierart in einem Universum ohne Schöpfer und ohne Sinn. Ihr Menschenbild war aber alles andere als ein mechanistischer Materialismus. Zwar sahen sie die Welt als von der Kausalität regiert, aber gerade deshalb glaubten sie an die Möglichkeit einer erfüllten Exis-tenz und einer menschlichen Gesellschaft: Für die radikalen Aufklärer war es die Leidenschaft, nicht die Vernunft, die als Antrieb und Ziel des menschlichen Lebens galt.
In einer Welt ohne Gott war daher das Ziel jeder Gesellschaft, dem größtmöglichen Teil ihrer Bürgerinnen und Bürger die größtmögliche Selbstentfaltung und Befriedigung zu ermöglichen. Ein planvolles und lustvolles Leben basierend auf Solidarität und Empathie wurde für sie Grundlage einer Gesellschaft, die auch ohne Absicherung im Jenseits im Einklang mit der Natur bestehen kann. Die philosophes vertraten viele Ansichten, die noch heute gewagt erscheinen: Sexuell waren nur Kinder für sie tabu (wenn auch die meisten von ihnen überraschend geordnete Existenzen hatten). Sie wollten eine gerechte Gesellschaft mit gleichem Zugang zu Bildung und Chancen, sie verteidigten die Rechte von Frauen und polemisierten gegen Kolonialismus und jede Art von Gewaltherrschaft. Die Welt wäre erst ein besserer Ort, sagte einer von ihnen, wenn der letzte König mit den Gedärmen des letzten Priesters erwürgt worden sei. Erst in einer Welt ohne Himmel und Hölle könne die Vernunft ihre eigentliche Rolle übernehmen, nämlich Eros zu erziehen, die allmächtigen Leidenschaften produktiver und reicher zu machen.
Diese radikale Aufklärung hat lange nicht teilnehmen können an der Debatte über die Zukunft der westlichen Gesellschaften. Dabei bietet gerade sie eine Möglichkeit, jenseits des Vernunftkultes die Grundlagen eines Zusammenlebens zu entdecken, das sich nicht ängstlich und gleichzeitig selbstzufrieden in alte Denkgewohnheiten zurückzieht, sondern es wagt, eine Gesellschaft jenseits alter kultureller Reflexe zu denken. Auf der Suche nach den Grundlagen einer integrativen Gesellschaft, die nicht in Relativismus versinkt und doch den Reichtum verschiedener Geschichten, Metaphern und Sprachen in sich aufnimmt, haben Diderot, Holbach und ihre Freunde uns noch viel zu sagen.