In seinem Buch „Dossier K.“ sagt Imre Kertész: „Diktaturen machen den Menschen zum Kind, insofern, als sie keine existentielle Entscheidung erlauben und dich damit der wundervollen Bürde der Verantwortung für dich selbst berauben.“ Im Gegensatz dazu scheint das Individuum in der heutigen Zeit von der Verantwortung für sein eigenes Schicksal erdrückt zu werden. Die fest in unserem Leben verankerte persönliche Entscheidungsfreiheit und ein globalisierter Kapitalismus sind die wesentlichen Merkmale einer Zeit, in der individuelle Autonomie zum höchs-ten Wert geworden ist.
Ich kann nicht sagen, ob Freiheit an sich krank macht. Diese Frage ist zu allgemein und zu abstrakt. Es gibt aber einen Bereich des menschlichen Lebens, der durch Pathologien der Freiheit gekennzeichnet ist: den der psychischen Pathologien. Henri Ey, einer der Meister der französischen Psychiatrie der Nachkriegszeit, hat sie als „Pathologien der Freiheit und des Beziehungslebens“ bezeichnet. Damals gehörten vornehmlich Psychosen zu dieser Kategorie, bis heute haben sich die psychischen Krankheitsbilder stark gewandelt. Man kann sagen, dass sich mit der Zunahme an Freiheit die Art und Weise des Krankseins gewandelt hat.
Seit über zwanzig Jahren befinden sich die Fachleute für psychische Gesundheit – Psychologen, Sozialarbeiter, Krankenschwestern – im Zentrum gesellschaftlicher Spannungen. Ein Psychiater aus Lyon erzählte mir, dass schon 1991 eine Krankenschwes-ter zu ihm kam und sagte: „Doktor, die Menschen leiden nicht mehr wie früher, helfen Sie uns das zu verstehen.“ Die sozialen Probleme der Menschen wie Armut und Ungerechtigkeit scheinen untrennbar mit ihren psychischen Problemen zusammenzuhängen. Viele halten diese neue Art des Leidens für das Ergebnis von Veränderungen in der Arbeitswelt, im Anstellungsverhältnis oder in der Familie. Die Leiden kreisen um zwei Themen: Zum einen geht es um die Angst, gesellschaftlichen Anforderungen nicht gerecht werden zu können, und zum anderen um den Verlust von Bindungen. In welchem Maße wir verantwortlich für die Auflösung des gemeinschaftlichen Lebens sind, die als Ursache für neue psychische Symptome und die Veränderung unserer Persönlichkeiten gelten dürfte, ist in der Fachwelt umstritten.
Der Auflösung der Gemeinschaft, der Vereinzelung der Menschen entspricht eine Klasse von Pathologien, die seit den 1930er-Jahren von Psychoanalytikern aus England und den USA beschrieben wurde: die narzisstischen Pathologien. Freud untersuchte Übertragungsneurosen wie Hysterie, Obsession und Phobie. Hierbei geht es immer um die Lust, die der Patient im Konflikt zwischen Verbotenem und Erlaubtem erlebt. Statt sich schuldig zu fühlen, fühle der Patient sich krank, erklärt Freud die Symptome dieser Neurosen. Die narzisstischen Pathologien gehören hingegen zu den sogenannten Charakterneurosen. Sie zeichnen sich durch eine Auflösung der Persönlichkeit aus, die bei den Übertragungsneurosen nicht vorkommt.
Bei Charakterneurosen dreht sich alles um den Verlust und nicht mehr um den Konflikt. Während bei den Übertragungsneurosen das Über-Ich, welches die Verbote generiert, im Fokus der Betrachtungen steht – Freud vergleicht es mit der Besatzungsmacht einer Stadt -, treibt im Gegensatz dazu bei den Charakterneurosen das Ideal des Ichs die Betroffenen verstärkt zu Handlungen an. Das Selbstwertgefühl und das Fundament der Persönlichkeit sind beeinträchtigt. Viele Psychoanalytiker gehen davon aus, dass die Mehrheit der heutigen Patienten dieser zweiten Klasse von Neurosen zuzuordnen ist. Sie glauben tendenziell, dass die Krankheitsbilder weniger, wie es für Übertragungsneurosen typisch wäre, mit Unterdrückung und Verbot zu tun haben, sondern dass das Problem vermehrt beim Ideal des Ichs liegt, was auf eine Charakterneurose hinweist.
Mit dieser Entwicklung von Ödipus zu Narziss ändert sich auch die Art des Leidens. Ging es bei Freud um die Ängste vor Konflikten, leiden die Menschen heute zunehmend unter der Angst vor Verlust und der eigenen Unzulänglichkeit in Bezug auf Ideale, insbesondere gesellschaftliche. Diese Pathologien symbolisieren das Aufkommen einer neuen Subjektivität, die eng mit individueller Autonomie zusammenhängt.
In den 1970er-Jahren setzte sich die Idee der Verdrängung des öffentlichen Menschen zugunsten des privaten durch. Die Folge hieraus war eine Gesellschaft der individuellen Ichs und die damit einhergehende schwindende Kraft sozialer Bindungen. Basierend auf den Erfahrungen von Psychoanalytikern haben zwei amerikanische Soziologen als Erste die These aufgestellt, das Individuum sei narzisstisch geworden: Richard Sennett in seinem Werk „Verfall und Ende des öffentlichen Lebens“, erschienen 1977, und Christopher Lasch in „Das Zeitalter des Narzissmus“, 1979. Beide Autoren warfen die Frage auf, ob die Veränderung des Individualismus sich gegen die Gesellschaft und gegen das Individuum selbst richtet.Seitdem besteht Einigkeit darüber, dass dieses eigentlich psychoanalytische Konzept, die Verdrängung von Ödipus durch Narziss, auch ein soziologisches ist, und seitdem gibt es in unseren Gesellschaften die Tendenz, psychische mit sozialen Fragen zu vermischen.
Man kann das an zwei zusammenhängenden Entwicklungen festmachen. Erstens sind durch den wachsenden Fokus auf die psychische Gesundheit Emotionen, Affekte, moralische Gefühle und alles, was zur individuellen Subjektivität gehört, in das Zentrum des gesellschaftlichen Lebens aller entwickelten Gesellschaften gerückt. Als Konsequenz hieraus benutzen wir für die Darstellung unserer sozialen Beziehungen eine emotionale Sprache. Ist eine Beziehung schlecht, fürchten wir psychisches Leid als Folge. Ist sie gut, meinen wir, eine positive Auswirkung auf unsere psychische Gesundheit feststellen zu können. Zweitens beherrscht die Autonomie das gesellschaftliche Leben. Persönliche Wahlfreiheit und die durch Freiheit, Wettbewerb und Kooperation geprägte individuelle Handlung verändern die Beziehung des Akteurs zu seinen Handlungen. Die Verantwortung des Handelnden wird stark betont. Die Verantwortung des Individuums im sozialen Leben steht im Mittelpunkt. Durch diese Entwicklungen gewinnt die individuelle Persönlichkeit eine neue Bedeutsamkeit. Es wird immer wichtiger, wie sich jede einzelne Person verhält und inwieweit sie in der Lage ist, ihre eigenen Fähigkeiten bis hin zur Veränderung ihrer Persönlichkeit weiterzuentwickeln.
Bei einem Lebensstil, der traditionell durch Disziplin bestimmt war, stellte sich jedem Einzelnen die Frage, die mit den Übertragungsneurosen in Zusammenhang gebracht wird: „Was darf ich tun?“ Mit wachsender Bedeutung der Autonomie und der idealistischen Vorstellung, ein jeder könne es aus sich selbst heraus zu etwas bringen, ist die Frage vielmehr die der Charakterneurose: „Bin ich fähig, das, was von mir erwartet wird, zu tun?“ Bei der Verlagerung vom Erlaubten zum Möglichen wird die Fähigkeit, sich auf beherrschte und angemessene Weise zu behaupten, ein wesentlicher Bestandteil der Sozialisation auf allen Ebenen der gesellschaftlichen Hierarchie. Durch diese Veränderung der Normativität wird das Individuum gewissermaßen auf einer Linie platziert, deren einer Extrempunkt Kompetenz, deren anderer Unfähigkeit markiert. Nähert es sich der Unfähigkeit, treten Schuldgefühle auf, den Anforderungen nicht zu genügen.
Die Autonomie besteht in einer Akzentverschiebung hin zur Aktivität des Individuums, aber sie ist zugleich auch etwas Passives, etwas, das man erleidet. Es gibt eine Verflechtung von Fehlverhalten, Misserfolg, Unglück und psychischem Leiden. In diesem Kontext gewinnen Störungen wie Depression, Abhängigkeit, soziale Phobie oder Hyperaktivität bei Erwachsenen eine neue Bedeutung. Die Schlussfolgerung aus der Zunahme solcher Krankheitsbilder ist nicht, dass irgendeine Krankheit der Freiheit existiert. Vielmehr entwickelt und verbreitet sich in individualistischen Gesellschaften ein Sprachgebrauch, der gesellschaftliche Befindlichkeiten in Bezug auf den eigenen seelischen und emotionalen Zustand ausdrückt und Störungen in den sozialen Beziehungen mit individuellen Beschwerden verknüpft. Unsere Interpretationen des gesellschaftlichen Übels vollziehen sich in Begriffen von Pathologien, von psychischen Leiden und Unbehagen. In der Sprache des Leidens drücken sich zahlreiche Konflikte und Spannungen des Lebens in der Gesellschaft aus und aus ihrem Vokabular schöpfen wir Handlungsgründe und Möglichkeiten, auf diese Konflikte und Spannungen einzuwirken.
Aus dem Französischen von Laura Breuer