„Unsere Fähigkeit, selbstbestimmt zu entscheiden, ist begrenzt“

ein Interview mit António Damásio

Zweifeln ist menschlich. Aufklärung im 21. Jahrhundert (Ausgabe IV/2011)


Herr Damásio, die Vernunft ist einer der zentralen Werte der Aufklärung. Gibt es aus neurowissenschaftlicher Perspektive überhaupt vernünftige Entscheidungen?

Zunächst ist Vernunft eines der Merkmale, die uns Menschen von anderen Lebewesen unterscheiden. Vernunft kontrolliert individuelle Verhaltensweisen, die sonst allein von natürlichen Einflüssen bestimmt würden. Es wird aber oft angenommen, Vernunft sei etwas, das unabhängig von natürlichen Impulsen existiert. Ich glaube nicht, dass das zutrifft. Die natürlichen Vorgänge im Körper sind immer an einer Entscheidung beteiligt.

Können Sie das genauer erklären?

Es gibt zwei Modelle: In dem ersten legt sich das rationale Verhalten quasi wie eine getrennte Schicht über das emotionale Verhalten. Vernunft ist hier die Verdrängung von Emotionen. In dem zweiten Modell, das ich bevorzuge, ist Vernunft ein neues Konzept, das einen alternativen Handlungsplan entwirft. Emotionen werden für dessen Umsetzung genutzt, dienen gewissermaßen als „Treibstoff“ für die Vernunft. Auch Bewusstsein basiert so auf den grundlegenden Gefühlen der Körperzustände. Es existiert eine Genealogie, die von den Körperfunktionen, von Gefühlen und Emotionen herrührt und zur Abbildung der Welt im Kopf führt, zu Logik und Vorstellungskraft. Bewusstsein und Vernunft sind also große Projektionen dessen, was aus den natürlichen Systemen entstanden ist.

Emotionen beeinflussen also ständig unsere Entscheidungen?

Mal mehr, mal weniger. Die große Kunst der Vernunft ist es, herauszufinden, wann Emotionen hilfreich sind und wann nicht. Eines der klassischen Probleme der Philosophie und Geschichte ist es, dass der Ursprung zu vieler Dinge mit dem Beginn der Menschheit in Zusammenhang gebracht wird. Es wird behauptet, dass nur Menschen Gefühle oder ein Bewusstsein besitzen. Das ist natürlich eine lächerliche Annahme. Wir haben anderen Spezies zwar einiges voraus, wir sind aber auch Teil einer Entwicklung. Manche Tiere haben soziale Emotionen, sogenannte moralische Gefühle. Denken Sie nur an den Schimpansen, der die Kinder anderer Schimpanseneltern beschützt.

Warum haben Menschen dann eine Ethik entwickelt und Schimpansen nicht?

Weil Menschen reflektieren können: Unser autobiografisches Selbst reicht viel weiter als bei anderen Spezies. Wir leben in der Gegenwart, haben eine detaillierte Vorstellung von der Vergangenheit und antizipieren ständig die Zukunft. Das Selbst wird in verschiedene zeitliche Rahmen projiziert. Ich kann mir keinen Schimpansen vorstellen, der dasitzt und sich fragt, was er an Weihnachten tun wird. Menschen haben sowohl eine beachtliche Erinnerungsgabe als auch eine große Vorstellungskraft. Sie können darüber reflektieren, was geschehen ist, und verschiedene Ereignissen vergleichen. Daraus entsteht eine Vorstellung davon, wie etwas korrigiert werden kann, das schlecht ist. Ethik und reflektiertes moralisches Handeln sind in der Biologie des Menschen angelegte Möglichkeiten zur Regulation des eigenen Lebens.

Ethik und Moral dienen also dem Überleben?

Natur und Evolution haben eine grundlegende Selbstregulation geschaffen. Seit über hunderttausend Jahren bestimmen unsere Gene, wie unser Herz schlägt und das Blut fließt. Soziokulturelle Regulation dient dem gleichen Zweck: der Erhaltung des Lebens. Sie ist wie eine Projektion der grundlegenden Selbstregulation. Wir Menschen halten uns für die Erfinder von Medizin, Kunst und der Idee der Gerechtigkeit. Aber eigentlich musste es so kommen. Unser Gehirn hat die Kapazität für intelligente Entscheidungen. Sobald wir mit Leid konfrontiert werden, suchen wir uns einen Weg zurück zum Gleichgewicht. Denn ohne Gleichgewicht bricht das Leben zusammen. Es besteht nur so lange, wie wir es erhalten.

Existiert das Konzept des freien Willens dann nur in unserer Vorstellung?

Ich denke, der freie Wille sollte als Ideal gelten. Es ist wünschenswert, einen gewissen Grad an Freiheit bei der Entscheidungsfindung zu haben, die Realität sieht aber meist anders aus: Unsere Fähigkeit, selbstbestimmt zu entscheiden, ist begrenzt.

Welche Konsequenzen hat das für die individuelle Verantwortung?

Es gibt Menschen, deren freier Wille durch die Schädigung bestimmter Gehirnregionen beeinträchtigt ist. Besonders, wenn Systeme betroffen sind, die mit emotionaler Kontrolle oder Denkprozessen zu tun haben, kann es passieren, dass Menschen zu falschen Entscheidungen kommen. Es macht einen Unterschied, ob jemand mit einem normalen Gehirn entscheidet, eine Bank auszurauben, oder jemand, dessen Gehirnfunktion gestört ist. Solche Störungen stellen uns vor ein schwieriges moralisches Problem, das wir als Gesellschaft lösen müssen. Natürlich muss so eine Person auch bestraft werden, aber es handelt sich gleichzeitig um einen Patienten. Wir müssen also beide Fälle unterschiedlich bewerten.

Wenn Emotionen so viel Einfluss auf uns haben, warum haben sie in westlichen Gesellschaften dann einen so schlechten Ruf?

Das verstehe ich auch nicht. Es könnte etwas mit der übertriebenen Rolle des Individuums in westlichen Gesellschaften zu tun haben. Das Individuum als moralischer Akteur und seines eigenen Schicksals Schmied steht bei uns stark im Fokus. In östlichen Gesellschaften ist das viel weniger der Fall. Das Individuum ist dort Teil einer Gruppe. Untersuchungen zeigen eine ganz andere Auffassung des Selbst, nämlich verteilt auf verschiedene Familienmitglieder. Geschwister oder Eltern sind Teil der eigenen Person. Es ist reine Spekulation, aber ich könnte mir vorstellen, dass das westliche Individuum mit der Intensität aller Emotionen, die auf es einwirken, schlicht und einfach überfordert ist. Besonders in Japan kann man sehen, dass die Menschen ihre Emotionen und Gefühle nicht zeigen. Diese Kontrolle muss sich über Hunderte von Jahren systematisch entwickelt haben. Oft denkt man, die Menschen wären kalt, aber natürlich haben sie auch Emotionen. Es gilt nur als unhöflich, diese zu zeigen.

Heißt das, dass auch vernünftige Entscheidungen kulturabhängig sind? Wäre es zum Beispiel eine vernünftige Entscheidung, wenn ein junger Mann in Japan nach dem Fukushima-Unglück bei seinem Bruder in Tokio bliebe, obwohl er die Möglichkeit hätte, an einen entfernteren Ort umzuziehen?

Genau hierin liegt das Problem. Wie beurteilt man eine solche Entscheidung? Man könnte sagen, es sind seine loyalen Gefühle gegenüber der Familie, die ihn dazu veranlassen, in Tokio zu bleiben. Man könnte aber auch sagen, die Entscheidung ist vernünftig, weil er genau das tut, was von ihm erwartet wird. Vernunft existiert also definitiv im Kontext einer bestimmten Kultur. Und es wäre leichtfertig, generelle Aussagen treffen zu wollen. Man muss sich die einzelnen Fälle ansehen.

In den westlichen Gesellschaften wird viel Wert auf die Rationalität gelegt. Welche Bedeutung hat Spiritualität?

Zunächst würde ich zwischen Spiritualität und Religiosität unterscheiden. Vor Kurzem war ich bei einem Musikfestival in England, wo ich Bach-Kantaten gehört habe. Bach hat diese Stücke geschrieben, um Menschen zu trösten. Sie sind sehr anrührend und sehr traurig und wurden viel auf Beerdigungen gespielt. Trotzdem haben sie in mir eine Art Wohlbefinden ausgelöst, ein spirituelles Gefühl. Spiritualität ist etwas, das die Menschen erhebt.

Ist Musik dafür besonders geeignet?

Ich denke, dass Kunst generell eine entscheidende Rolle für die Regulierung einer Gesellschaft spielt. Ich kann mir vorstellen, dass schon zu Zeiten, in denen die Höhlenmalerei entstanden ist, Musik und Malerei zur Organisation der Gesellschaft und zur Schlichtung von Problemen genutzt wurden. Damit sind wir wieder bei der Tendenz zum Gleichgewicht. Nicht nur für den Erhalt des individuellen Lebens muss gesorgt werden. Für Gesellschaften trifft das Gleiche zu. Daran sehen Sie, dass soziokulturelle und persönliche Regulierung nach den gleichen Prinzipien funktionieren.

Das Interview führten Laura Breuer und Timo Berger



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