Kaputte Kunst

von Michail Ryklin

Das Deutsche in der Welt (Ausgabe IV/2010)


Am 12. Juli diesen Jahres endete im Moskauer Tagansker Gericht der Strafprozess gegen den ehemaligen Direktor des Sacharow-Zentrums, Juri Samodurow, und den Kurator Andrej Jerofejew. Beide Männer waren beschuldigt worden, mit ihrer Ausstellung „Verbotene Kunst“ die nationalen und religiösen Gefühle orthodoxer Gläubiger verletzt zu haben. Nach einem kräftezehrenden Gerichtsmarathon, der 14 Monate andauerte, wurden Samodurow und Jerofejew für schuldig befunden und zu beträchtlichen Geldstrafen verurteilt.

Bereits vor sieben Jahren lief ein Prozess gegen die Kuratoren der Moskauer Ausstellung „Achtung, Religion!“, die von orthodoxen Nationalisten verwüstet worden war. In der Zeit, die seither vergangen ist, haben die Machthaber die russische Kunstszene immer wieder drangsaliert und sie dazu erzogen, unter dem Druck von orthodoxen Fundamentalisten und Nationalisten zu arbeiten. Sie blockierten eine Oper und mehrere Ballette, nahmen Bilder aus bereits eröffneten Ausstellungen und bezeichneten dies als Vergeltung für „Hooliganismus gegen Gott“. Deshalb wurde die Entscheidung des Tagansker Gerichts im Falle von Samodurow und Jerofejew von vielen mit Erleichterung aufgenommen, ja beinahe sogar als Freispruch verstanden. „Sie müssen nicht ins Gefängnis, Gott sei Dank!“, hörte man von allen Seiten.

Was die Entscheidung des Tangansker Gerichts angeht, bin ich vollkommen einer Meinung mit Andrej Jerofejew: Sie wird dazu beitragen, die Zensur zu verstärken, sowohl die innere als auch die äußere, und zudem den Rückzug der Kunst aus der Öffentlichkeit befördern. Die Kunst wird kriminalisiert. Gleichzeit findet in Russland ein Prozess ihrer Kommerzialisierung statt. Kunst gerät zur schicken Ware. Das Internetportal mail.ru nennt Ilja Kabakow als teuersten russischen Künstler, eine seiner Arbeiten wurde vor Kurzem für 5,8 Millionen Dollar verkauft.

Noch ganz anders sah es Mitte der 1980er-Jahre aus, als ich einem Kreis von Künstlern des Moskauer Konzeptualismus nahestand. Damals lebten diese Künstler wie in parallelen Welten: Einerseits verdienten sie ihren Lebensunterhalt mit Buchgrafiken und arbeiteten in Museen oder Bibliotheken, andererseits schufen sie ihre Werke, die sie nicht in öffentlichen sowjetischen Räumen ausstellten, über die sie aber in ihrem Kreis intensiv diskutierten. Der sozialkritische Kern dieses künstlerischen Undergrounds war offensichtlich, wenngleich dieser, anders als etwa bei den politischen Dissidenten, in der Regel nicht so deutlich zum Ausdruck gebracht wurde. Die Konzeptualisten waren die Ersten, die systematisch mit den visuellen und literarischen Symbolen der Sowjetunion arbeiteten und sich zu ihnen gleichzeitig distanziert und kritisch verhielten.

Der Philosoph betrachtet die Kunst grundsätzlich mit anderen Augen als die unmittelbaren Teilnehmer an künstlerischen Prozessen: Künstler, Kuratoren, Galeristen, Museumsmitarbeiter, Sammler, Mäzene. Denn die Kunst interessiert den Philosophen in erster Linie als Ereignis, als etwas, das die Rahmenbedingungen für das Begreifen der restlichen Welt verändert. Die materielle Form, die sie annimmt – als Bild, Installation oder Skulptur – ist für den Philosophen dagegen nebensächlich, ganz im Gegensatz zu den aktiven Teilnehmern des Kunstmarkts. Freilich ist es kein Monopol der Kunst, Ereignisse zu schaffen. Es gibt sie auch in der Politik oder im Sport.

Wenn man sich den Umgang mit Auktionen und Märkten vor Augen führt, so erinnert er in letzter Zeit an optimistische Lageberichte über Kriegsereignisse. Immer häufiger wird über Kunst in Zusammenhang mit sensationellen Verkäufen berichtet. Die Werke der Stars – keineswegs nur jene der alten Meister – schlagen einen Preisrekord nach dem anderen. Im Jahr 2007 wurde das Werk „For the Love of God“ von Damien Hirst – ein von 8600 Brillianten umgebener Schädel – für 75 Millionen Dollar verkauft. Damit war ein neuer Weltrekord aufgestellt. Preise für Arbeiten von Künstlern wie Francis Bacon, Lucien Freud, Jeff Koons oder Gerhard Richter „explodieren“ und man könnte diese Liste noch fortführen.

Ich bin kein Befürworter der radikalen These von Boris Groys, der von einem universalen Warencharakter ausgeht und für den jede Form der Kritik deshalb nichts anderes darstellt als ein weiteres Label für ein hoch bezahltes Gut. Für Groys unterscheiden sich ein Text von Jaques Derrida oder eine Arbeit des Konzeptkünstlers Hans Haake von einem Madonna-Hit oder dem neuen Mercedes-Modell lediglich in der Höhe ihres Preises. Ich dagegen denke, dass der Kunstmarkt sich wesentlich von Märkten mit anderen Waren abhebt, denn man kauft auf ihm etwas Immaterielles, das ein Potenzial zur Überschreitung besitzt.

Mir scheint, das Problem besteht darin, dass der Spielraum zwischen der Transgression und ihrer Kommerzialisierung verschwindet. Kritik ist für den Markt dann bedeutsam, wenn sich durch sie etwas erfolgreich verkaufen lässt. Immer häufiger wird das Werk, beispielsweise im Falle von Damien Hirst oder Jeff Koons, schon innerhalb des Marktes erdacht, im Dialog mit potenziellen Käufern. Mit anderen Worten: Die Transgression bleibt erhalten, verflacht aber. Sie wird privatisiert und hört auf, Bestandteil einer öffentlichen Sphäre zu sein. Zwar ist die Kunst dann immer noch keine gewöhnliche Ware, wird aber als solche hervorgebracht. Könnte man sie nicht verkaufen, so würde das für diese Art von Kunst eine Katastrophe bedeuten und den kompletten Sinnverlust.

Für den Philosophen ist ein Werk wie Damien Hirsts „For the Love of God“ zu speziell, sein Ereignischarakter verliert sich in dem engen Kreis der „Eingeweihten“. Dagegen wird die Kunst für den Philosophen interessant, wenn sie als Ware (und in der kapitalistischen Gesellschaft nimmt letzten Endes alles diese Form an) die Zeit überdauert. Der Franzose Marcel Duchamp zum Beispiel stellte ein Urinal ins Museum und der amerikanische Künstler Terry Fox setzte vor einem kalifornischen Luxusrestaurant Sträucher in Brand, um an den Krieg in Vietnam zu erinnern. Diese und tausend ähnliche künstlerische Gesten besaßen in dem Moment ihrer Darbietung keinen Preis. Man stellte sie nicht aus, um sie zu verkaufen. Allmählich aber wurden sie zu musealen Objekten, manchmal über viele Jahre hinweg, manchmal sogar für Jahrzehnte. Und in diesem Zeitraum war ihre Ereignishaftigkeit nicht von privater, sondern öffentlicher Natur. Unter autoritären Regimes wie dem der Sow-jetunion wurden kritische Werke lange Zeit überhaupt nicht zum Verkauf angeboten. In der öffentlichen Sphäre herrschte das Monopol des Sozrealismus.

Das ist nun lange her. Nach den chaotischen, aber verhältnismäßig freien 1990er-Jahren kam die Zensur nach Russland. Nach dem Gesetz ist sie verboten, aber tatsächlich gibt es immer mehr Tabus und deren Verletzung hat in der Vergangenheit bereits zu einigen Strafverfahren geführt. Man darf keine christliche (insbesondere keine orthodoxe) Symbolik nutzen, das „Heilige mit dem Profanen“ nicht vermischen (als ob die Grenze zwischen diesen beiden nicht sowieso ständig woanders verlaufen würde), nicht in der Fluchsprache schimpfen, die auf Russisch Mat heißt, Menschen nicht nackt darstellen, die Rechtsorgane nicht ironisieren. Und wer weiß, was man morgen noch verbieten wird.

Vom Staat protegierte Fundamentalisten üben in Russland Druck auf die Kunst aus, die sich gleichzeitig stark kommerzialisiert. Als Weltmeister im Einkauf von Luxusobjekten erwies sich Roman Abramowitsch. Ihm gehören das teuerste Haus der Welt, einige elegante Yachten und ein englischer Fußballclub. 2008 kaufte er bei einer Auktion von Sotheby´s Bilder von Francis Bacon und Lucien Freud für eine Summe von 120 Millionen Dollar. Seine Freundin Darja Schukowa eröffnete in Moskau die Galerie „Garage“ auf einer Fläche von 9.000 Quadratmetern. Das begeisterte die Kunstwelt der russischen Hauptstadt. „Die Tatsache, dass er (Abramowitsch) angefangen hat, sich für zeitgenössische Kunst zu interessieren, bedeutet, dass Tausende von Leuten, die davon träumen, Abramowitsch zu werden, also bedeutende Geschäftsleute, ihre Aufmerksamkeit auf zeitgenössische Kunst richten“, sagt der Galerist Marat Gelman.

Am 16. September 2008 eröffnete in der Galerie „Garage“ eine grandiose Ausstellung von Ilja Kabakow. Der Champagner floss in Strömen, über tausend Kataloge des Künstlers wurden verschenkt. Die Ironie dieser Geschichte bestand für mich darin, dass gerade die Arbeiten von Kabakow, dem Kritiker und Dichter des kleinen Mannes in der Sowjetunion, mit luxuriöser Dekoration und mondänen Ritualen gezeigt wurden. Gleichzeitig wurden in Moskau noch zwei weitere Austellungen mit seinen Werken eröffnet. Zu dieser Zeit waren Samodurow und Jerofejew bereits schon lange wegen Verletzung nationaler und religiöser Gefühle angeklagt. Kabakow selbst hatte an der Ausstellung „Verbotene Kunst“ teilgenommen, für die nun die beiden Kuratoren vor Gericht standen.

Auf der einen Seite zieht man also Kuratoren in ein Strafverfahren und kriminalisiert Werke von Künstlern mithilfe von orthodoxen „Experten“, auf der anderen Seite inszenieren Oligarchen für ebendiese Künstler prunkvolle Benefizveranstaltungen. Die Massenmedien loben sie über alle Maßen und führen sie an als Beispiele für finanziellen Erfolg. Der Großteil jener Künstler, deren Arbeiten in der Austellung „Verbotene Kunst“ zu sehen waren, ist in Russland und im Westen gut bekannt. Einige von ihnen leben sogar dort oder haben dies in der Vergangenheit getan. 
 Die steigende religiöse Intoleranz gegenüber Entwicklungen in der weltlichen Kultur (die dänischen Karikaturen sind dafür nur das berühmteste Beispiel) geht auf der ganzen Welt Hand in Hand mit steigenden Preisen für Kunstwerke. Zum öffentlichen Ereignis wird zudem immer weniger das Werk als vielmehr dessen Zerschmetterung.

Man startet eine Hatz auf den Künstler und verflucht die „gottlose“ weltliche Kultur. Die Fundamentalisten, die für solche Exzesse verantwortlich sind, wollen nicht die Rückkehr zu den Quellen des Glaubens (sie sind genauso ein Produkt der Globalisierung wie die zeitgenössische Kunst), sondern den Triumphzug einer falsch verstandenen Gerechtigkeit. Man könnte die Aktionen der Fundamentalisten geradezu als ungewöhnliche Form der Werbung betrachten, wenn sie nicht in Gewalt ausarten würden.

Unter den zeitgenössischen Philosophen hat der Franzose Jean Baudrillard mein Verständnis von Kunst am meisten beeinflusst. Seit Nietzsche betrachten die Philosophen das Ereignis als die höchste Erscheinungsform der Kunst. Baudrillard radikalisiert -diese Auffassung. Er trennt scharf zwischen dem, was sich Kunst nennt und auf dem Markt als solche behandelt wird, und dem, was sie tatsächlich bedeutet. Baudrillard ist bekannt für seine mehr als reservierte Haltung zum Mainstream in der zeitgenössischen Kunst. Nach seinem Verständnis unterscheidet sich das Ereignis vom Werk darin, dass man es nicht kaufen kann.

Der französische Philosoph datierte den Beginn des Niedergangs des symbolischen Potenzials der zeitgenössischen Kunst auf einen konkreten Tag: den 11. September 2001. Damals geschah nicht nur ein unglaubliches Verbrechen, sondern es fand auch ein Ereignis statt, das überhaupt die Möglichkeit des schöpferischen Werks verneinte, die Möglichkeit von Autorenschaft und Signatur. Das zentrale Prinzip des späten Kapitalismus wurde infrage gestellt: die allgemeine Austauschbarkeit.

Es dauerte nicht lange, bis vom „Angriff auf Amerika“ die Rede war, obwohl alle Philosophen, die darüber geschrieben haben, wie Baudrillard, Jacques Derrida, Slavoj Zizek oder Paul Virilio, sich darin einig waren, dass die Gründe für den Angriff auf das World Trade Center innerhalb, nicht außerhalb der westlichen Gesellschaften zu suchen sind. Als Reaktion auf dieses Ereignis des Anschlags folgte der Krieg gegen den Terror, der bis heute andauert. Er hat das soziale Klima verändert. Neue Verbote wurden eingeführt und schärfere Formen der Kontrolle. 
 Die Kunst reagierte auf diese neue Situation, indem sie sich abkapselte. Sie zog sich ins Private zurück und verbündete sich mit den zentralen Figuren des Kunstmarkts. Die Kommerzialisierung ist die logische Konsequenz. Die Antwort der religiösen Fundamentalisten auf den Krieg gegen den Terror bestand darin, einen stärkeren Druck auf die weltliche Kultur auszuüben und die Kunst aus der öffentlichen Sphäre zu vertreiben. Das Resultat: Das kritische Potenzial der Kunst nahm ab. Die Kunst war nicht länger ein Spiegel, in dem sich die Gesellschaft als Ganze abbildete. Solange kritische Tendenzen auf dem Markt herausgefiltert werden, bleibt die Kunst aber für Außenstehende uninteressant.

Nach dem 11. September 2001 (in Russland bereits mit dem Beginn des zweiten Tschetschenien-Kriegs) geriet die weltliche Kultur in Turbulenzen. Die Sichtweisen der politischen und intellektuellen Eliten gingen auf tragische Weise auseinander. Während die Intellektuellen darauf bestanden, den Terroranschlag als etwas in der globalisierten Welt Begründetes zu betrachten, bemühten sich die erstarkten Politiker, dieses Trauma im hegelschen Sinne zu entäußern und in einem Feinbild zu konzentrieren. Unter den neuen Bedingungen wird nun diejenige Kunst zu einem riskanten Unternehmen, die über Unterhaltung hinausgeht. Die Kriterien, die es erlauben sollten, sie von politischem Radikalismus zu unterscheiden, verwischten sich. Der Skandal um die dänischen Karikaturen hat gezeigt, dass es unter den Bedingungen des Krieges gegen den Terror schwieriger geworden ist, die Rechte der weltlichen Kultur vor religiösem Fanatismus zu schützen. In Russland beginnt man die Kunst sogar aus den für sie vorgesehenen Ausstellungsräumen zu vertreiben – die Museen werden zu Räumen Gottes erklärt. 

Aus dem Russischen von Carmen Eller



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