Meine Mutter musste schon zwei Monate nach meiner Geburt wieder arbeiten. Es fehlte einfach an allem. Die Wirtschaftskrise verschärfte sich in den 1970er-Jahren in Rumänien drastisch und fast alles war rationiert. So suchte sie für mich eine Betreuung.
In meinem Dorf Marienfeld, das auf Rumänisch Teremia Mare heißt, wohnten – so kam es mir als Kind jedenfalls vor – mindestens zur Hälfte Deutsche, die kaum Rumänisch konnten, und es gab rumänische Familien, wie meine, die ihrerseits nur wenig Deutsch konnten. Dazwischen lebten noch ein paar wenige Ungarn.
Als ich knapp ein Jahr alt war, fand meine Mutter für mich eine ältere deutsche Tagesmutter. Morgens um sieben brachte sie mich zu ihr und abends um sieben holte sie mich wieder ab. In einer Zeit, in der ein Kind die ersten Wörter lernt, hörte ich zwölf Stunden am Tag Deutsch. Es war nicht meine Muttersprache, aber es war meine erste Sprache, die Sprache meiner „Oma“, denn so nannte ich meine Tagesmutter bald. Sie nahm mich überall hin mit: zu ihrem Sohn und seinen Kindern, zu den alten Frauen, mit denen sie sich traf, und auch in die katholische Kirche, wo ich mit ihr im Chor sitzen durfte. Überall wurde nur Deutsch gesprochen, aber ich hatte nie den Eindruck, dass meine „Oma“ gegen das Rumänische eingenommen war.
Ganz anders war meine leibliche Großmutter. Sie war in einem Dorf mit großer ungarischer Minderheit aufgewachsen, mochte das Ungarische und war gegen alles, was Deutsch war. Als sie mit meinem Großvater noch vor dem Zweiten Weltkrieg ins Banat kam, arbeiteten sie als Tagelöhner bei deutschen Großgrundbesitzern. Auch meine deutsche Tagesmutter hatte vor dem Zweiten Weltkrieg als Tagelöhnerin bei einem deutschen Großgrundbesitzer gearbeitet. Doch auch in diesem armen Milieu der Tagelöhner blieb man lieber unter sich.
Ich weiß nicht genau, wo dieser Hass meiner Großmutter auf alles Deutsche herrührte. Ich konnte nicht viel mit ihr darüber sprechen. Ob sie die Banater Schwaben, wie diese Minderheit genannt wird, alle als Hitler-Anhänger empfand, was sie teilweise ja auch gewesen waren, und ob der Krieg ihr so viel Leid gebracht hat, dass sie aus diesem Grund antideutsch wurde, kann ich nicht sagen. Die meisten Rumänen bewunderten die Deutschen eher dafür, wie sie ihre Sprache und Kultur pflegten. Und zum großen Entsetzen meiner Großmutter war meine Mutter sehr dahinter, dass ich mit dem Deutschen in Kontakt kam und zweisprachig wurde. Sie steckte mich im Kindergarten in eine deutsche Gruppe. In der Schule war es ebenso. Wir hatten eine deutsche Klasse mit 18 Kindern, die von der ersten bis zur vierten Klasse gemeinsam unterrichtet wurden. Anfangs existierte auch für die älteren Schüler von Klassenstufe fünf bis acht noch eine deutsche Klasse, aber als ich selbst so alt war, gab es nicht mehr genügend deutschsprachige Kinder und ich musste zum rumänischen Unterricht wechseln, was mir anfangs sehr schwer fiel. Ich sprach Rumänisch mit deutschem Akzent.
Eine deutsche Familie nach der anderen verließ während meiner Schulzeit Marienfeld und siedelte nach Deutschland über. Ich vermisste die Menschen, mit denen ich aufgewachsen war. Meine „Oma“, die ich noch jeden Tag besuchte, wanderte aus, als ich zehn Jahre alt war. Die ganze Familie bekam die Möglichkeit, in die Bundesrepublik zu gehen, und alle zogen mit. Auch meine Eltern hatten viele deutsche Bekannte und Freunde, die oft bei uns zu Hause waren, bis sie eines Tages nicht mehr kamen. Aber ich habe nie gefragt: „Warum gehen die fort? Warum bleiben wir hier?“ Ich war es gewohnt, nicht zu viel nachzufragen und nach draußen zu erzählen. Zum Beispiel über die Mutmaßungen meiner Eltern, wer informeller Mitarbeiter der Securitate war. Oder dass Briefe und Päckchen, die meine „Oma“ aus Deutschland bekommen hatte, geöffnet worden waren. So etwas durfte man nicht in der Schule der Freundin erzählen. Die Deutschen, die bis zum Schluss blieben und zum Teil erst nach der Wende ausreisten, wurden oft verdächtigt, für den Geheimdienst zu arbeiten. Manchmal war das wohl auch so. In die leerstehenden Häuser der Deutschen zogen in den 1980er-Jahren viele Rumänen. Heute leben in Marienfeld nur noch ein paar ganz wenige alte Deutsche.
Die Kindheit meiner Mutter, dieses schwere Leben, und auch die banaterdeutsche Gemeinschaft, in der ich aufgewachsen bin, schildert Herta Müller sehr treffend in ihren Büchern. Ich habe mich sehr über ihren Literaturnobelpreis gefreut, aber auch über die Deutschen geärgert, die sie so für sich vereinnahmten, obwohl sie davor kaum jemand kannte. Nein: Sie kommt aus Rumänien. Und ich bewundere sie dafür, dass sie nicht psychisch krank wurde von dem Druck, der auf ihr lastete und ja auch nach der Wende noch anhielt. Rumänen wie Banater Schwaben haben sie gleichermaßen als Nestbeschmutzerin beschimpft.
Protokolliert von Karola Klatt