Es gibt wahrscheinlich mehr als 50 Milongas in Buenos Aires, Salons, in denen jeden Abend bis zum Morgengrauen Tango getanzt wird. Jeder Tänzer hat seinen Lieblingsort. Die Milongas werden gewöhnlich von unterschiedlichen Veranstaltern organisiert. So kommt es, dass an ein und demselben Ort an aufeinanderfolgenden Abenden DJs mit unterschiedlichen Vorlieben und Überzeugungen, was der wahre Tango sei, auflegen. Dementsprechend variiert auch das Publikum nach Alter, Musikgeschmack und sozialer Herkunft.
Es ist jene besondere Mischung von Alt und Jung, Arm und Reich, wegen der ich Stammgast des Salon Canning geworden bin und jeden Montag, Dienstag und Freitag die Milonga „Parakultural” besuche. Dort tanzen ältere Herren in makellosem Anzug und weißem Hemd neben Jugendlichen in Jeans und den von der Milongatradition verbotenen Turnschuhen. Viele Frauen tragen dagegen die typischen Tangoröcke mit den unregelmäßigen, wie zerrissen wirkenden Zipfeln.
Der klassische Milonguero sollte seine Schuhsohle über das Parkett gleiten lassen, „bis er Späne vom Boden hobelt”. Der Mythos des vollkommenen Tänzers hält sich hartnäckig, auch wenn ich noch nie Holzspäne gesehen habe. Vor Jahren wurde die Canning-Straße in Scalabrini-Ortiz-Straße umbenannt. Eine politische Entscheidung: Der Name des englischen Außenministers George Canning wurde durch den des nationalistischen Vordenkers Ortiz ersetzt. Am Salon Canning sind die Wechselspiele der Ideologie jedoch vorbeigegangen. Selbst junge Taxifahrer kennen den alten Straßennamen noch. Wenn der Fahrgast ihn ausspricht, fragen sie lächelnd zurück: „Wollen Sie zur Milonga, mein Herr?”
Aus dem Spanischen von Timo Berger