Gut aufgehoben

von Umberto Eco

Freie Zeit. Was Menschen tun, wenn sie nichts zu tun haben (Ausgabe IV/2009)


Der Katalog eines Museums ist ein Beispiel für eine praktische Liste, sie bezieht sich auf Gegenstände, die an einem bestimmten Ort existieren, und als solche ist sie notwendigerweise endlich. Aber wie sollen wir uns ein Museum oder irgendeine Sammlung an sich vorstellen? Abgesehen von den äußerst seltenen Fällen, wo eine Sammlung sämtliche Gegenstände eines Typs versammelt (zum Beispiel ausnahmslos alle Werke eines Künstlers), ist eine Sammlung immer offen und kann um weitere Elemente bereichert werden. Besonders wenn der Sammlung die pure Lust an der Anhäufung und Mehrung ad infinitum zugrunde liegt.

Außer in Fällen extremer Spezialisierung ist eine Sammlung immer inkongruent. Ein Gast aus dem Weltraum, dem unser Begriff von Kunst nicht geläufig ist, würde sich fragen, warum im Louvre Dinge des täglichen Gebrauchs wie Vasen, Teller oder Salzfässchen aufbewahrt werden und neben ihnen Götterbilder wie die Venus von Milo, Landschaftsbilder, Porträts von gewöhnlichen Menschen, Grabfunde und Mumien, Kultobjekte, Bilder von Gefolterten, weibliche Akte, die sexuelles Begehren wecken, und sogar architektonische Elemente.

Aber man braucht gar nicht an einen Außerirdischen zu denken. Schon 1923 bekundete Paul Valéry sein Unbehagen am Museum: „Ich habe keine ausgesprochene Vorliebe für Museen. Zwar gibt es sehr viele bewunderungswürdige unter ihnen, aber kein einziges ist wirklich bezaubernd. Der Gedanke der Einteilung in Schulen, der Konservierung und der allgemeinen Nützlichkeit, der an sich richtig und klar ist, hat wenig mit Entzückungen zu tun. [...] Ich befinde mich mitten in einem Tumult eisesstarrer Wesen, von denen jedes einzelne vergeblich das Nichtvorhandensein aller anderen fordert. [...]

Ein organisiertes Durcheinander entsteht lautlos von mir. Ich werde von einem heiligen Schauder gepackt. Mein Schritt wird andächtig. Meine Stimme wandelt sich. Sie wird etwas lauter als in der Kirche, bleibt aber immer noch leiser als gewöhnlich. Bald weiß ich gar nicht mehr, was ich eigentlich unter diesen wächsernen Einsamkeiten suche, die etwas von Tempel und Salon, von Friedhof und Schule haben. [...] Wie ermüdend, wie barbarisch, sage ich mir. Nichts daran ist menschlich, nichts echt. Es ist paradox, diese unabhängigen, aber gegensätzlichen Wunderwerke einander näherbringen zu wollen, denn wenn sie sich am meisten ähneln, stehen sie im schroffsten Gegensatz zueinander.“ [...]

Vielleicht hatte Valéry an dem Tag ja gerade schlechte Laune, vierzehn Jahre später hat er jedenfalls für die Fassade des Palais de Chaillot folgende Verse zu Ehren der musealen Ausstellung verfasst: „Seltene wie auch schöne Dinge / Sind hier kunstreich zusammengestellt / Sie lehren das Auge schauen / Als ob es nie zuvor gesehen hätte / All diese Dinge, die die Welt enthält.“ Aber er hat in seiner Kritik drei wesentliche Eigenschaften des traditionellen Museums erkannt und benannt: 1) Es ist eine stille, dunkle, wenig freundliche Umgebung, 2) die Präsentation der Werke außerhalb jedes Kontexts erschwert es, sie einzeln wahrzunehmen und alle zu behalten, und 3) bedrückt das Museum durch seine Unersättlichkeit. Die jüngsten Entwicklungen in der Museumskultur haben die ersten beiden Einwände Valérys mehr oder weniger entkräftet: Heutzutage sind die Museen hell, sonnig, freundlich, einladend und fröhlich, und fast immer wird durch die Gestaltung der Säle das einzelne Werk in seinen Kontext eingebettet.

Der dritten Eigenschaft konnte allerdings nicht abgeholfen werden, denn man besucht ein Museum doch gerade, weil es sich alles einverleiben will. Das Museum ist aus der Privatsammlung hervorgegangen, und der Privatsammlung wiederum liegt ein Raub zugrunde, in ihrem Ursprung ist sie Kriegsbeute. Plinius schreibt in seiner Naturgeschichte: „Jener Sieg des Pompejus lenkte die Sitten zuerst zu Perlen und Edelsteinen, sowie der des L. Scipio und Cn. Manlius zu getriebenem Silber, attalischen Kleidern und mit Erz verzierten Triclinien, der des L. Mummius zu corinthischen Geschirren und Gemälden.“ (Buch XXXVII, 13 f.). Durch solchen Raub (oder, wenn man will, aus dem Recht zur Eroberung) entsteht die Anhäufung von ausgezeichneten Gegenständen und der Stolz, diese Anhäufung immer mehr zu erweitern.

Krysztof Pomian meint, ursprünglich seien Grabbeigaben oder Weihegaben für den Tempel in frommer Verehrung und an nicht öffentlich zugänglichen Orten gesammelt worden (man denke nur an die mit den Pharaonen beerdigten Schätze). Die Sammelleidenschaft wendet sich aber schon recht bald Dingen zu, die Pomian »semiophor« nennt, das heißt Dingen, die jenseits ihres materiellen Werts Bedeutungsträger und Zeichen sind, die auf etwas anderes verweisen, auf die Vergangenheit, der sie entstammen, auf eine fremdartige Existenzweise, deren einzige Zeugen sie sind, auf die Welt des Unsichtbaren.

Wir wissen nur wenig über die Sammlungen der römischen Patrizier, hingegen haben wir reichlich Zeugnisse über die mittelalterliche Sammeltätigkeit. In den Kirchenschätzen und Schatzkammern dieser Zeit finden wir Reliquien, Edelsteine, Kuriositäten, erstaunliche, wunderbare, unerwartete Dinge. Viele dieser Sammlungen sind mittlerweile verschwunden oder in alle Winde verstreut, wie der berühmte Schatz des Herzogs von Berry oder jener der Abtei von Saint-Denis. Abt war hier im 12. Jahrhundert der große Suger, ein kenntnisreicher Sammler, ein Liebhaber von Edelsteinen, Perlen, Elfenbein, goldenen Kandelabern, bemalten Altaraufsätzen, der aus der Anhäufung von kostbaren Gegenständen eine Art Religion und eine philosophisch-mystische Theorie machte. Das Beste aus der Zeit Sugers ist in der Französischen Revolution verloren gegangen, und der weithin berühmte Kelch des Abts und Bischofs befindet sich heute in London. Aber ein großer Teil ist erhalten und wird im Louvre aufbewahrt.

Höchste Verehrung genossen in den mittelalterlichen Schatzsammlungen die Reliquien. Der Reliquienkult ist keine bloß christliche Angelegenheit Plinius berichtet von kostbaren Reliquien der griechisch-römischen Welt: der Leier des Orpheus, einer Sandale Helenas oder dem Knochen des Ungeheuers, das Andromeda bedroht. Im Mittelalter stellte eine Reliquie für eine Stadt oder eine Kirche eine Attraktion dar, sie war nicht nur Gegenstand frommer Verehrung, sondern besaß auch unschätzbare Anziehungskraft für Pilger aus aller Welt.

In der Kathedrale Sankt Vitus in Prag werden die Hunde des heiligen Adalbert und des heiligen Wenzel aufbewahrt, das Schwert des heiligen Stefan, ein Splitter vom Kreuz Jesu, das Tischtuch des Letzten Abendmahls, ein Zahn der heiligen Margarete, ein Splitter vom Schienbein des heiligen Vitale, eine Rippe der heiligen Sophie, die Kinnlade des heiligen Eobanus, der Stab des Moses und ein Kleid der Muttergottes. Der Katalog des Schatzes des Herzogs von Berry verzeichnet den Verlobungsring des heiligen Josef, und in Wien kann man ein Stück der Krippe von Bethlehem bestaunen, die Börse des heiligen Stefan, die Lanze, die Jesus in die Seite gestoßen wurde, einen Nagel vom Kreuz, das Schwert Karls des Großen, einen Zahn von Johannes dem Täufer, einen Armknochen der heiligen Anna, die Ketten der Apostel, ein Stück vom Kleid Johannes’ des Evangelisten und ein weiteres Stück vom Tischtuch des Letzten Abendmahls. Ganz zu schweigen von der Kehle des heiligen Karl Borromäus, die sich im Domschatz von Mailand befindet. Und wenn man das Mailänder Inventar der Messgewänder und Kirchengerätschaften studiert, stellt man fest, dass dazu, auf verschiedene Sakristeien verteilt, neben prachtvollen Gewändern, Gefäßen, Monstranzen aus Elfenbein und Gold auch einige Dornen aus der Krone Jesu gehören, ein Stück vom Kreuz und verschiedene Muskelfasern der Heiligen Agnes, Agathe, Katharina und Praxedis sowie der Heiligen Simpliciano, Caio und Gerunzio.

Auch ein Nichtgläubiger kann sich dem Zauber dieser Gegenstände nur schwer entziehen. In erster Linie sind es die Gegenstände selbst, diese gelblichen, anonymen Knorpel, zugleich abstoßend, pathetisch und geheimnisvoll diese Fetzen von Kleidungsstücken aus wer weiß welcher Epoche, verblichen und farblos, zerschlissen, manchmal in einer Phiole eingeschlossen und zusammengerollt wie eine mysteriöse Flaschenbotschaft mürbe Knochen, die auf den Stoffen und Metallen, auf denen sie ruhen, zerfallen. Und dann sind da die Behältnisse von unglaublicher Pracht, oft von einem frommen Bastler gefertigt, der dazu Teile anderer Reliquienschreine verwendete, in Form von kleinen Kathedralen mit Türmen, Fialen und Kuppeln, bis hin zu barocken Reliquienbehältern (die schönsten sind in Wien zu sehen), wo es von winzigen Skulpturen nur so wimmelt und die aussehen wie Uhrwerke, Spieluhren oder Wunderdosen. Liebhaber der zeitgenössischen Kunst erinnern einige an die surrealistischen Boxes von Joseph Cornell oder Armans Akkumulationen voller Brillen und Uhren oder an die Zusammenstellungen von Damien Hirst – nichtreligiöse Reliquienschreine, die aber wie diese vom Gefallen am Vergilbten und Verstaubten zeugen und in jedem Fall Interesse an einer irrwitzigen Anhäufung von Dingen dokumentieren.

Der abgedruckte Auszug ist dem neuen Buch von Umberto Eco „Die unendliche Liste“ entnommen. Aus dem Italienischen von Barbara Kleiner. Das Buch erscheint am 15. Oktober 2009 im Carl Hanser Verlag, München. Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlags.



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