In meinem Leben gibt es zwei Phänomene, die mich ständig anziehen: das Wasser und die Höhe. Nichts verschafft mir eine größere innere Gelassenheit als der Blick auf das offene Meer oder das Gefühl, mich über allen anderen Menschen zu befinden. Vielleicht hängt es damit zusammen, dass wir aus dem Wasser kommen und in den Himmel aufsteigen. Alle wissen um die Energie, die vom offenen Ozean ausgeht. Aber die Dächer kennen nur wenige.
Kaslowa 3, Liebknechtstraße 9, Adsinkowa-Straße 23. Nach dem amtlichen Stadtplan von Minsk stehen an diesen Orten Objekte, die nichts miteinander gemein haben: ein nicht fertiggestelltes Parkhaus, ein Wohnhaus und ein Verwaltungsgebäude. Aber auf meinem nicht offiziellen Stadtplan von Minsk sind das die Adressen der „offenen“ Dächer. Heute erzähle ich Ihnen, wie sich die urbane Hektik von dort oben ausnimmt und warum Menschen in ihrer Freizeit so gerne auf die Dächer über Minsk steigen.
In Sankt Petersburg, der Stadt der schönen Dächer, hat das belarussische „Roofing“ seinen Ursprung. Zugänglichkeit ist dabei der entscheidende Faktor. Wie überall auf der Welt sind die meisten Dächer in Belarus verschlossen. Deshalb muss man zunächst Bekannte finden, die über Schlüssel zu Dachböden verfügen. Man muss nach zufällig unverschlossenen Dächern suchen, nach verlassenen und verwahrlosten Häusern und nach Gebäuderuinen, in denen jegliche Türen fehlen.
Man erzählt einander von offenen Dächern und führt Freunde dorthin. Oben macht man Fotos, organisiert Partys und feiert Geburtstage. Manche kommen dorthin, um sich wiederzusehen, um zu lesen, zu spielen, zu lernen. Andere sonnen sich, begrüßen den Sonnenaufgang, nachdem sie bereits den Sonnenuntergang dort beobachtet haben. Einige schlafen sogar auf den Dächern. Tatsächlich tun die Menschen auf den Dächern genau das, was sie auch unten auf der Erde tun. Nur dass es dort oben keine Hektik gibt, keine Arbeitszeiten, keine irgendwie gearteten Einschränkungen.
Die Dächer in Belarus, besonders in Minsk, sind derart populär geworden, dass inzwischen ganze Stadtpläne mit offenen Dächern existieren. Die „Dachkletterei“ hat sich zu einem alternativen Freizeitphänomen unter den belarussischen Jugendlichen entwickelt. Auf den Dächern versammeln sich alle Subkulturen: Punks, Emos, Indies, Heavy-Metal-Anhänger, Couchsurfer, Rope Jumper, Hippies, Orientalisten, Pro-Europäer, Dichter, Künstler, Fotografen. Es ist schwer zu sagen, wie viele Menschen auf den Dächern herumklettern. Ich denke, täglich sind das mindestens mehrere Dutzend, wenn nicht sogar Hunderte. Ich selbst gehöre keiner Subkultur an. Aber das Dach ist zu einem nicht mehr wegzudenkenden Teil meines Lebens geworden.
Alles begann mit dem Kolosseum. So lautet einer von vielen Namen für das bekannteste Dach von Minsk. Das Parkhaus für Rettungswagen, das nie fertiggestellt wurde und seit Sowjetzeiten eine Bauruine ist, hat sich schon vor langer Zeit in eine Pilgerstätte für Roofer verwandelt. Und das nicht nur für Menschen aus Belarus. Einmal habe ich ein Mädchen aus Sankt Petersburg dorthingeführt. Ich hoffte, sie mit meinem kleinen Ausflug zum Staunen zu bringen. Aber am Ende war ich derjenige, der überrascht war: Das Mädchen erzählte mir, sie sei schon einmal hier gewesen.
Also, was ist das Kolosseum? Es ist das Dach der Welt. Ein zehnstöckiges Gebäude unweit der Hauptstraße von Minsk – des Prospekts Nesawissimosti, der Straße der Unabhängigkeit. Es ist ein riesiges Dach von runder Form. In der Mitte ragt die sogenannte „Trommel“ empor, eine ebenfalls runde Erhebung mit einem Durchmesser von zehn Metern, zu deren Spitze eine Leiter führt. Von außen betrachtet hat der Ort etwas Majestätisches. Vermutlich war er einmal als Landeplatz für die Hubschrauber der Rettungskräfte gedacht. Jetzt stellt er einen Landeplatz für die Dutzenden Menschen dar, die täglich dieses Dach besuchen. Hier ist immer jemand, und jeder hat seine Mission, sei es das Biertrinken oder die Suche nach einem schönen Ausblick auf die Stadt.
Nirgendwo kann man besser eine Party feiern als auf dem Kolosseum. Die riesige Fläche kann eine unbegrenzte Zahl von Menschen aufnehmen. Ich glaube, wenn man wollte, könnte man gleichzeitig tausend Leute auf diesem Dach versammeln. Das Kolosseum ist schon so vermenschlicht, dass jetzt dort oben wie auf der Erde gefegt wird. Ich kenne Leute, die regelmäßig mit ihren Müllsäcken hierherkommen und aufräumen.
Wenn man verstehen will, was die „Minsker Dächer“ sind, muss man auch ein bisschen über das Land erzählen, in dem sie stehen. Belarus ist der größte Staat in Europa, der keinen Zugang zum Meer hat. Österreich, die Schweiz und Tschechien zusammen genommen hätten leicht Platz in unserem Land.
Belarus hat eine ungewöhnlich reiche Geschichte. Dank Franzisk Skarina waren die Belarussen nach den Tschechen die Zweiten, die die Bibel in ihrer Muttersprache druckten. Der Belarusse Kasimir Semjanowitsch fertigte bereits im 17. Jahrhundert die Skizze einer stufenförmigen Rakete an. Genau auf diese Idee stützte sich Konstantin Tsiolkowskij, als er die sowjetische Rakete erfand. Und die Belarussin Julija Neszarjenka war die erste Nichtamerikanerin in den letzten 25 Jahren, die – bei den Olympischen Spielen in Athen 2004 – den Hundertmeterlauf gewann.
Aufgrund der teuren Visa können die Belarussen nicht einfach nach Europa reisen, so wie die Europäer nach Belarus. Es gibt bei uns kein nichtstaatliches Fernsehen, und auch die meisten gesellschaftspolitischen Zeitungen werden vom Staat kontrolliert. In Minsk ist es sogar verboten, Satellitenschüsseln anzubringen: Nach Meinung der Stadtbehörden verschandeln sie die Häuserfassaden.
Das bedeutet aber nicht, dass es schrecklich wäre, in unserem Land zu leben. Nein, wir leben, und zum Teil gar nicht schlecht. Dennoch gibt es bei uns weit mehr Verbote als in anderen Ländern. Teilweise existieren diese nicht in Form von Gesetzen, sondern sind Ausdruck einer Mentalität. Die ältere Generation lebt bis heute gemäß ihren sowjetischen Vorurteilen und orientiert sich damit an denselben Prinzipien, die irgendwann einmal vom sowjetischen Kommandosystem in ihre Gehirne eingepflanzt wurden.
Zum Glück ist meine Generation anders aufgewachsen. Zum Glück sind alle, die heute unter 30 sind, nichtsow-jetische Menschen. Auch auf den Dächern werden Sie keinem sowjetischen Menschen begegnen. Genau deshalb herrscht dort oben, im Gegensatz zum Leben auf der Erde, eine für belarussische Maßstäbe freie Atmosphäre.
Seit mir eine Bekannte vor vier Jahren das Kolosseum zeigte, zieht es mich auf alle Dächer der Welt. Ich will mehr und mehr Menschen alle mir bekannten Dächer zeigen. Ich will erleben, wie die Sonne von unterschiedlichen Häusern aus untergeht. Wenn du auf einem Dach bist, spürst du diese unglaubliche Ruhe. Da oben gibt es weder Straßenverkehr noch Datenverkehr. Einmal auf dem Dach angelangt, ist der Mensch von der Gesellschaft abgeschnitten. Wenn du die Decke oder Zeitung ausgebreitet oder dich einfach auf die Dachpappe gesetzt hast, bist du von der Erde losgelöst.
In der Großstadt ist es sehr schwierig, echte Einsamkeit zu erfahren. Im Park, im Café, in der eigenen Wohnung – überall verfolgen uns überirdische Blicke und begrenzen Wände den Raum. Nur das Dach ist frei von Blicken und Wänden. Und von dummen Regeln. Allein der Selbsterhaltungstrieb setzt Schranken und verbietet dir Kunststücke am Dachrand. Ich weiß von einem Fall, bei dem ein Mädchen aus dem zehnten Stock gefallen und ums Leben gekommen ist. Weitaus mehr Tragödien ereignen sich aber jeden Tag auf der Erde, wo die von Alltagssorgen belasteten Menschen andere nicht weniger mit ihren Gedanken beschäftigte Leute mit dem Auto überfahren...
Ich selbst war das letzte Mal auf einem Dach, als jemand mich anrief und bat, diesen Text zu schreiben. Meine Bekannte hatte die Schlüssel zum Dachboden in ihrem Treppenaufgang aufgetrieben. Vier Leute, ausgerüs-tet mit Fotoapparat, Schokoladenkonfekt und Pfirsichen, einer Decke und einer Flasche halbsüßem Rotwein, lagen dort irgendwo über dem nordwestlichen Stadtrand von Minsk. Wolken verdeckten den Sonnenuntergang, aber wir erwischten den Moment, in dem die Lichter in den Wohnungen angingen. Von den Dächern aus kann man wunderbar in das Privatleben der Menschen in den oberen Stockwerken spähen. Sie ziehen die Vorhänge an ihren Fenstern nicht zu, weil sie vollkommen sicher sind, dass niemand sie sehen kann. Unten auf der Erde stimmt das auch. Aber sie ahnen nichts von den Menschen auf dem Dach ihres Hauses.
In den letzten vier Jahren haben sich unglaublich viele Geschichten um die Roofer angesammelt. Besonders gern erinnere ich mich an die Künstler, die ich in meinem zweiten Studienjahr auf dem Dach kennenlernte. Damals arbeitete ich an einer Radiosendung über das Roofing. Ich begegnete Kunststudenten, die eine Silvesterparty auf dem Dach gefeiert hatten, symbolträchtig über dem Ploschtschad Swabody, dem Platz der Freiheit. Dmitrij, einer der Künstler, erzählte, dass sich dabei 40 Freunde auf dem Dach tummelten. Ein anderes Mal erledigten die Studenten dort ihre Hausaufgabe und malten den Sonnenaufgang vor der urbanen Landschaft. Auf dem Dach hat Dmitrij auch seine Freundin getroffen.
Versuchen Sie mal, auf Ihr eigenes Dach zu klettern. Vielleicht hält ja das Schicksal auf dem Haus, in dem Sie sonst herumgehen, ein Geschenk für Sie bereit.
Aus dem Russischen von Ivette Löcker