Besser als in echt

von Don Marinelli

Freie Zeit. Was Menschen tun, wenn sie nichts zu tun haben (Ausgabe IV/2009)


Im Gegensatz zur landläufigen Meinung ist die virtuelle Realität eine der ältesten Formen menschlicher Unterhaltung. Alle Menschen kennen das Verlangen und haben die Fähigkeit, in einer ausgedachten Welt zu leben. Virtuelle Realität existierte bereits lange vor jeder Technologie. Tatsächlich bedarf es nicht einmal der Technik, um sie zu erleben. An dieser Stelle wird sich der eine oder andere fragen, ob ich den Verstand verloren habe. Nicht wirklich. Die Fähigkeit, in Traumwelten zu leben, ist ein wesentlicher Teil dessen, was es bedeutet, Mensch zu sein. Wir sind von Natur aus Träumer.

Der Ausdruck „virtuelle Realität“, wie er heutzutage meist verwendet wird, steht für eine Welt, die der Mensch mithilfe von Computern erschafft. Die Fähigkeit, Realität zu manipulieren, ermöglicht es gleichzeitig, Sinneserfahrungen durch Technologie zu entfesseln. Virtuelle Realität ist somit keine Täuschung der menschlichen Psyche, sondern vielmehr deren Befreiung. Nicht wenige Menschen lieben es, in ihrer Freizeit in eine virtuelle Realität einzutauchen. Warum aber fasziniert uns diese Möglichkeit?

Lassen Sie mich deshalb eines voranstellen: Die virtuelle Welt ist keine „wirkliche“ Welt, weil sie nicht als Materie existiert. Trotzdem kann sie unsere Sinne einbeziehen, uns sehen, hören, riechen, schmecken und tas­ten lassen. Eine technische Benutzeroberfläche erlaubt es dem Spieler oder Nutzer, diese unwirkliche Realität wahrzunehmen. Dies kann ein herkömmlicher Computerbildschirm, ein helmähnliches Gerät mit einem kleinen Bildschirm vor einem oder beiden Augen oder auch ein anderer Betrachtungsapparat sein. Derzeit beinhalten die meis­ten virtuellen Lebenswelten vornehmlich visuelle Erfahrungen, doch die Art und Weise, wie diese Realitäten „gesehen“ werden, kann stark variieren. Lautsprecher oder Kopfhörer ermöglichen es, zu hören, und eine wachsende Zahl virtueller Realitätssysteme arbeitet zudem mit haptischen Einheiten, die auch unter dem Terminus „Kraft-Rückmeldung“ bekannt sind.

Das simulierte Umfeld einer virtuellen Welt versucht oft zu kopieren, was wir in der echten Welt wahrnehmen. Inzwischen nähern wir uns einem Ereignishorizont, an dem es sehr schwer sein wird, eine digitale Person, ein digitales Objekt oder eine digitale Landschaft von dem „echten“ Pendant zu unterscheiden.

Warum aber sollten wir diesen Weg einschlagen? Die offensichtlichste Antwort darauf lautet: „Weil wir es können.“ Virtuelle Realität ist für uns aus verschiedenen Gründen ansprechender als die „echte“ Welt. Vor allem existiert sie jenseits jeglicher Einschränkung durch Raum oder Zeit. Für Videokonferenzen wird mit dem Argument geworben, dass diese es den Menschen ersparen, Geld auszugeben und sich körperlich anzustrengen. Unter dem gleichen Aspekt kann man auch die virtuelle Realität betrachten. Sie erlaubt den Menschen, zu simulieren, was wir ansonsten körperlich erfahren würden.

Der Erfolg der Simulation hängt nun davon ab, wie wahrheitsgetreu die virtuelle Welt diese Erfahrung widerspiegelt. Dies ist ein empfindlicher Punkt, der übrigens dafür ausschlaggebend ist, dass sich virtuelle Realität nicht uneingeschränkt für militärische Zwecke verwenden lässt. Die Wirklichkeitsnähe eines „virtuellen“ militärischen Umfelds ist für gewöhnlich weit von dem „tatsächlichen Erlebnis“ entfernt.

Virtuelle Realität ist für Menschen in erster Linie deshalb attraktiv, weil sie handlungsorientiert ist und interaktive Unterhaltung bietet. Der Nutzer kann eigene Entscheidungen treffen, die seine Welt beeinflussen. Eben das unterscheidet interaktive Medien von der eher passiven Erfahrung, einen Film zu sehen oder ein Buch zu lesen. Die virtuelle Welt kann auf die Handlungen des Nutzers dynamisch reagieren. Datenhandschuhe helfen dabei, die Bewegungen von Fingern und Händen zu übertragen.

Ein weiteres Faszinosum der virtuellen Realität besteht in der Möglichkeit, in die künstlich erzeugte Welt einzutauchen. Dies kann mit dem ganzen Körper geschehen oder auch auf akustische oder visuelle Empfindungen beschränkt sein. In beiden Fällen geht es darum, die virtuelle Realität überzeugend zu vermitteln. Dieses Eintauchen ist einer der wirkungsvollsten psychologischen Effekte, der durch die virtuelle Realität technisch ermöglicht wird. Wenn das gelingt, fühlt sich der Spieler so vollständig in die virtuelle Umgebung eingebunden, als bewege er sich in der echten Welt – vielleicht sogar noch stärker.

Um eine solche Illusion zu kreieren, muss die virtuelle Welt navigierbar sein. Man muss sich in ihr bewegen, sie erkunden, untersuchen oder anderweitig räumlich wahrnehmen können. Das beste Beispiel einer solchen navigierbaren virtuellen Welt sind wahrscheinlich Flugsimulatoren. Manche von ihnen sind derart realistisch, dass Piloten für deren Benutzung tatsächlich Flugstunden angerechnet bekommen.

Der Erfolg und die Effizienz solcher Simulatoren ist allerdings weniger auf die digitale Animation als auf die Hardware zurückzuführen. Flugsimulatoren kopieren bis ins kleinste Detail das Cockpit und die Funktionsweise eines Flugzeuges. Allerdings muss auch gesagt werden, dass es viel einfacher ist, den Luftraum virtuell nachzuahmen, als vieles andere.

Komplexere Umgebungen mit lebensnahen Qualitäten auszustatten, ist vor allem deshalb so schwierig, weil es in der Hardware technologische Grenzen gibt. Beispielsweise sind viele am Kopf des Nutzers zu befestigende Bildschirme (HMD) mit einem Computer verkabelt. Die Bewegungsmöglichkeit ist dadurch eingeschränkt und der jeweilige Spieler läuft Gefahr, sich in Kabeln zu verheddern, während er das virtuelle Umfeld erkundet. Sogar bei kabellosen HMDs sind oft Überkopf-Sensoren vonnöten, um die Position des Spielers in der virtuellen Welt aufzuzeichnen. Darüber hinaus ist die Bewegungsfreiheit an Orten, wo sich virtuelle Realität erfahren lässt, stark begrenzt. In der Vergangenheit versuchte man deshalb, Spieler auf Laufbändern gehen zu lassen, um ihnen mehr Bewegung zu ermöglichen. Dies brachte allerdings geringe Erfolge und mehr als ein paar Verletzungen.

Ein Feld, in dem die virtuelle Realität meiner Meinung nach in der nahen Zukunft eine entscheidende Rolle spielen wird, ist die Bildung. In meiner wissenschaftlichen Arbeit ist es mir ein großes Anliegen, die Grenze zwischen Freizeit und Bildung aufzuheben. Und dabei spielt der Einsatz von virtueller Realität eine entscheidende Rolle.

Unter dem Begriff „Edutainment“ fasst man den Ansatz zusammen, Bildung mit Unterhaltung zu verknüpfen. Während der Nutzer interessiert und amüsiert bei der Sache ist, soll er neues Wissen erwerben und bestimmte Fähigkeiten erlernen. Das akademische Umfeld in den meisten Ländern der Erde basiert allerdings auf altmodischen Modellen. Der Schüler bleibt passiv und nimmt das Wissen auf, das ihm der Lehrer vermittelt.

Die digitale Revolution hat nun ein Szenario geschaffen, in dem junge Leute mehr Wissen und Erfahrung im Umgang mit Kommunikationsmitteln, Recherchewerkzeugen und Anwendungsmöglichkeiten haben als ihre Lehrer.

Mehr als je zuvor sollte Lernen heute und in Zukunft eine so soziale und Spaß bringende Erfahrung wie das Spielen sein. Die Schüler sind die Spieler und der Lehrer muss zum Trainer werden.

Wir leben im Zeitalter der Experimente. Es ist Zeit, dass Bildung die Freuden des Spiels mit sich bringt. Es liegt an den Lehrern von morgen, interaktive Technologien möglichst schnell einzusetzen. Ansonsten riskieren wir, eine ganze Generation von jungen Leuten zu verlieren, für die Schule gleich Langeweile ist.

Über ihre Bedeutung für die Bildung hinaus hat virtuelle Realität das Potenzial, Aspekte der „echten“ Realität zu erschließen, die unseren Sinnen ansonsten verschlossen bleiben. Diese Herangehensweise bezeichnet man als „Augmented Reality“ (AR), als „Erweiterte Realität“. Dabei geht es im Wesentlichen darum, das Unsichtbare wahrnehmbar zu machen und die erfahrbare Wirklichkeit mit zusätzlichen Daten zu bestücken.

Ein anschauliches Beispiel hierfür wäre die Fähigkeit, die Kraftfelder eines Magneten zu sehen, was normalerweise jenseits unserer Möglichkeiten liegt. Dank virtueller Realität können wir uns über diese Grenze der sinnlichen Erfahrbarkeit hinwegsetzen. Wir könnten etwa ein historisches Artefakt wie ein Kriegsschild nehmen und einem Spieler mithilfe von virtueller Realität vermitteln, wann es hergestellt, wie es gehalten und im Kampf benutzt wurde. In Museen, Wissenschaftszentren, Schulen, Krankenhäusern und allen Arten von Unterhaltungs- und Bildungseinrichtungen steigt das Interesse daran, virtuelle Realität in erweiterte Realität umzuwandeln.

Realität ist mehr als das, was wir sehen können. Diesen Satz haben wir schon oft gehört. Nun sind wir an einem Punkt in der Technologiegeschichte angekommen, an dem wir in Form von virtueller und erweiterter Realität die Komplexität sowohl der sichtbaren als auch der imaginierten Welt darstellen können. Mehr noch: Wir sind sogar dazu in der Lage, die Unterschiede zwischen diesen beiden Welten verschwimmen zu lassen. Es ist gut möglich, dass wir, indem wir Gemeinsamkeiten von realer und imaginärer Wirklichkeit entdecken, besser verstehen, was es heißt, voll und ganz Mensch zu sein. 

Aus dem Englischen von Sebastian Kubitschko



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