Wir nennen es Liming

von BC Pires

Freie Zeit. Was Menschen tun, wenn sie nichts zu tun haben (Ausgabe IV/2009)


Die E-Mail kam von Karola Klatt von der Zeitschrift KULTURAUSTAUSCH: Könnte ich den Deutschen bitte „Liming“ erklären? Und ich dachte: Hmmm, vielleicht sollte ich versuchen, ihnen als Erstes „Spaß“ zu erklären, sozusagen als Aufwärmübung, um dann dem fleißigsten Volk diesseits von Japan den Begriff des Liming zu vermitteln – der Kunst, überhaupt nichts zu tun, so als ob es von größter Wichtigkeit wäre.

Es ist nicht nur die Idee des Liming, die den Deutschen und Europäern im Allgemeinen, womöglich mit Ausnahme der Spanier und Portugiesen, fremd sein dürfte. Das Vokabular und die Redensarten, die man für eine Erklärung bräuchte, würden schwierig zu übersetzen sein – und Gott und Karola allein wissen, wie man mit größtmöglichem Sprachgefühl dies ins Deutsche übertragen soll. Man kommt nicht darum herum, festzustellen, dass Liming eine jener Tätigkeiten ist, die man, wie den Cunnilingus, den Moonwalk und das Jodeln, am besten durch Vor- und Mitmachen erklärt und versteht. Der Graben zwischen denen, die limen, und denen, die nach einer Definition des Liming suchen, ist vielleicht unüberwindbar. Man könnte genauso gut versuchen, das Schulterzucken eines New Yorker Pfandleihers ins Suaheli zu übersetzen.

Ich glaube, was man als Erstes begreifen muss, ist die Haltung zum Liming, die ein Spiegelbild der trinidadschen Haltung zu allem ist. Und die trinidadsche Haltung zu allem ist wahrscheinlich das genaue Gegenteil von der der Westeuropäer. Falls allerdings mein Verständnis der Bücher von Alexander Solschenizyn und meine Sicht der Filme von Krzysztof Kie?lowski einen sicheren Anhaltspunkt bieten, trifft das nicht unweigerlich auf die Haltung der Osteuropäer hinter dem Eisernen Vorhang zu.

Wenn ich diesen Artikel einem trinidadschen Journalisten beschreiben müsste, würde ich wohl sagen: „Ich muss den Weißen Liming erklären“, und jeder Trinidader, der sich nicht absichtlich dumm stellt, würde nicht den geringsten Rassismus in meiner Wortwahl ausmachen. Denn der furchteinflößende, gefährliche und unerbitterliche Arier, der den Leuten in Berlin sofort in den Sinn kommen mag, ist meilenweit von den Gedanken der Trinidader am Strand von Maracas entfernt. Hier hat der Ausdruck „Weiße“ überhaupt nichts mit physischen Eigenschaften zu tun, außer man meint physische Geografie. Auch weiße Trinidader benutzen die Bezeichnung in diesem Kontext, ohne sich selbst darin mit einzuschließen. Der trinidadsche „Weiße“ ist ein „Kulturfremder“, der historische Bewohner des Herrenhauses auf der Plantage. Menschen, die völlig vertraut mit Gänseleberpastete sind, aber nicht wissen, was ein „Doppelter mit wenig Pfeffer“ ist. (Das ist ein frittierter Miniburrito gefüllt mit gepfefferten Kichererbsen und scharfer Soße).

Die Figur „Fives“ aus dem Roman „The Lonely Londoners“ von Samuel Selvon, dem 1994 verstorbenen trinidadschen Autor, kam beim Liming zu seinem Namen. Jemand sagte zu ihm, er wäre „so schwarz wie Mitternacht“. Ein anderer Limer entgegnete sofort: „Nee, der schwärzer als Mitternacht, der schwarz wie fünf nach zwölf.“ So wurde er „Fives“. Ich habe schon „Weiße“ getroffen, die physisch so schwarz waren wie Fives. Abgeordnete des Parlaments von Trinidad und Tobago, die jeden Tag unerträglich heiße Jacketts und Krawatten tragen, sind in diesem Sinne „Weiße“: Sie sind völlig abgehoben von dem, was in ihrem eigenen Land üblich und sinnvoll ist.

Das ist der Graben zwischen dem Trinidader und dem Deutschen dem lässigen Limer und dem fleißigen Forscher dem, der Worte logisch aufbaut, indem er Silbe an Silbe reiht und so die Bedeutung steigert, und dem, der dauernd ganz beiläufig Ausdrücke benutzt, die überall sonst in der Welt rassistisch und feindselig sind, hier in Trinidad aber neutral und oft sogar freundlich.

Diese Gabe, sich das Verdrehte anzueignen, ist eine Fähigkeit, die leicht bei jedem Thema und in jedem Zusammenhang zur Geltung kommt. Trinidader sagen beispielsweise, dass eine Party „good too bad“ war. Wenn das sichere Anzeichen eines Genies die Fähigkeit ist, gegensätzliche Standpunkte simultan zu vertreten, dann kommen die trinidadschen Limer dem Genie jeden Freitag Abend sehr nahe – mit einem Bier in der Hand an der Straßenecke. Und dieses lässige Umstülpen des Normalen ist der Schlüssel zum Liming.

Es scheint mir auch wichtig, Karola und der Truppe bei KULTURAUSTAUSCH – ich habe dieses Wort nie eigenhändig getippt, sondern nur aus Karolas E-Mails kopiert und in meinen Text eingefügt (und es sieht immer noch verkehrt aus) – klarzumachen, dass in Trinidad oft vier Generationen, Großeltern, Eltern sowie Kinder und Enkelkinder, fröhlich zusammen Parties feiern, und zwar zur gleichen Musik. Sei es Musik von Mighty Sparrow, David Rudder oder Bunji Galin, den berühmtesten trinidadschen Musikern aus jeder dieser Generationen. Das geschieht am einfachsten auf Hochzeiten, aber auch immer dann, wenn eine Party lang genug andauert.

Was auch immer dieses generationenübergreifende Vergnügen entstehen lässt, die unausgesprochene Vereinbarung, dass das Selbst vollkommen und bereitwillig dem anderen gewidmet sein muss, um eine Einheit zu bilden, ist die nächste Voraussetzung für Liming.

Auf den Westindischen Inseln gibt es kaum etwas, das nicht auf die Sklaverei und das Plantagensystem zurückgeführt werden kann, und, soweit ich das sagen kann, bildet Liming keine Ausnahme. Nur dort, wo die Freiheit restlos abgeschafft worden ist – wie durch die Sklaverei in der Neuen Welt oder die versuchte Vernichtung des Individuums in der Sowjetunion – kann die individuelle Freiheit, das Nichtstun zu wählen, wertvoll werden, und zwar wenn sie von jedem Einzelnen geltend gemacht, befürwortet und verteidigt wird. Das scheint mir die Knospe zu sein, aus der das Liming in Trinidad erblüht ist.

Aber Liming ist mehr als nur Faulenzen wie der norwegische Anthropologe Thomas Hylland Eriksen schon vor fast zwanzig Jahren in einem aufschlussreichen, wissenschaftlichen und meiner Meinung nach kundigen Aufsatz „Liming in Trinidad: The Art of Doing Nothing“ feststellt. Wenn Liming gut gemacht wird, ist es weit besser als Nichtstun. Es ist eine existenzielle Aussage, eine Erklärung, dass der Limer genauso sehr ein Mensch ist wie der Arbeiter. Er ist sogar noch mehr, denn jeder Mensch kann arbeiten, aber nur das freie Individuum, das imstande ist, alles nur Vorstellbare von sich abzuschütteln, kann auch gut limen.

Wenn man also begreift, dass Liming keine Aktivität ist – oft ist ja gerade Stillstand nötig –, sondern ein Geisteszustand, dann begreift man, dass Liming überall und zu jeder Zeit geschehen kann. Trinidader sprechen vom „Liming im Panyard“ (Panyards sind die Höfe, wo die örtlichen Steelbands ihre alten Ölfässer, die sie zum Trommeln verwenden, aufbewahren), vom „Liming bei der Filmpremiere“, vom „Liming im Parlament“, vom „Liming beim Endspiels der Fußball-Weltmeisterschaft“, oder vom „Liming auf der feministischen Demonstration auf dem Woodford Square“. Man könnte sogar in der Redaktion des KULTURAUSTAUSCH limen.

Man kann auch mit eigentlich jedem zusammen limen. Ich übertreibe nicht, wenn ich sage, dass ich oft mit meiner Katze lime. Mein Hund ist allerdings kein guter Limekumpel. Er jagt immer dem Stöckchen nach, wedelt mit dem Schwanz oder bellt. Er begreift nicht, dass das Nichtstun der Beginn des Wohlfühlens ist, oder anders ausgedrückt, dass für einen früheren Sklaven das Wohlfühlen durch Tätigkeit es nie mit dem Wohlfühlen durch Vermeidung von Tätigkeit aufnehmen kann.

Auf keinen Fall darf die anspruchsvolle Geisteshaltung des Liming mit purer Faulheit verwechselt werden. Jeder Mensch kann faul sein. Aber am Ende des Faulenzens ist er im Grunde unglücklich, weil es keine Erholung bietet, in Faulheit zu schwelgen. Die Batterien werden nicht aufgeladen. Es ist purer nutzloser Müßiggang.

Demgegenüber ist Liming ein außerordentlich nützlicher Müßiggang. Es ist eine Unabhängigkeitserklärung.

Wir Sklaven, die wir immer schon angetrieben wurden – über Hunderte von Jahren mit der Peitsche und heute durch die Notwendigkeit, zwanzig Prozent Rendite zu erwirtschaften –, wir, die Getriebenen, behaupteten uns für diese kurze Weile. Während wir miteinander limten, konnte uns niemand etwas vorschreiben. Wir taten nur, was wir wollten, und das war nichts, nichts, nichts.

Und die ganze Zeit, in der wir limten, existierten wir. Wir waren Menschen. Wir waren nicht so, wie uns irgend jemand zwang zu sein. Insbesondere waren wir nicht produktiv. Wir limten für Stunden und das Liming führte zu fucking nichts: Wir trommelten keinen Takt mit Flasche und Löffel wir sangen keinen einzigen Calypso, diese auf den westindischen Inseln verbreiteten Lieder wir nahmen noch nicht einmal einen Schluck Wasser, doch falls jemand eine Flasche Rum gehabt hätte, hätten wir zugegriffen. Wir taten nichts außer klarzustellen, dass wir die Gabe besaßen, zu erkennen und zu verkünden, dass wir etwas wert sind, ohne als Beweis dafür einen Klumpen Zucker oder ein Fass Öl zu produzieren. Allein um unsretwillen, waren wir wir selbst.

Und jeder, der dabei gewesen ist, würde dir sagen, dass man den Lime nicht verlassen konnte. Denn er war so süß.

Aus dem Englischen von Rosa Gosch



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