Seit dem Einmarsch der US-Amerikaner in den Irak und der Beseitigung Saddam Husseins steht das Zweistromland im Brennpunkt des öffentlichen Interesses. Nicht dass seine Einwohner vorher uninteressanter oder ihr Leid geringer gewesen wären – doch die Herzen der Bürger westlicher Demokratien erwärmen sich meist auf medialen Zuruf. Vom Land, das man so lange unbeschwert ignoriert hatte, möchte man auf einmal mehr erfahren. Und siehe da, es florieren Bücher zum Thema „Irak“ – nicht nur Sachbücher, sondern auch Romane.Ein solcher ist der Debütroman des 1996 aus dem Irak geflohenen Lyrikers Abbas Khider („Der falsche Inder“). Er erzählt die Irrnisse und Wirrnisse eines jungen irakischen Flüchtlings, der sich in verschiedenen arabischen Ländern durchschlägt – in Jordanien, Libyen und Tunesien –, bis er über die Türkei illegal nach Griechenland und von dort aus schließlich nach Deutschland gelangt. Am Ende seiner Odyssee hält er seine Erfahrungen in einem Manuskript fest, das von einem Landsmann im ICE Berlin-München aufgefunden wird. Dieser zweite Iraker steht für das andere Ich des Erzählers, das sich endlich mit der eigenen verdrängten Vergangenheit konfrontiert.
Schlimm muss diese Zeit der Verfolgung gewesen sein, und man würde gerne mehr über das berüchtigte Regime Saddams wissen. Doch der Erzähler resümiert seine Schrecken in nur drei Sätzen: „Die Diktatur wurde härter. Widerstand schien schier unmöglich. Ich wurde aus politischen Gründen inhaftiert und später wieder freigelassen.“ Ausführlich schildert er dagegen seine Leidenschaft für Frauen, denen er von Libyen bis Bayern „auffällig und gern auf der Straße hinterherschaut, hauptsächlich denen mit besonders prallen Hintern“. Ein zielloser Flüchtling, der zwischen Intellektualität und Lüsternheit schwankt, mal als Kellner, mal als Lehrer arbeitet, der sich schnell verliebt und ebenso schnell das Land seiner Geliebten verlässt, weil er „nirgends mehr bleiben wollte, wo in den Straßen die Bilder irgendwelcher Präsidenten herumhingen“.
Als „falscher Inder“ bezeichnet er sich, da man ihn als Kind wegen seiner dunklen Hautfarbe für einen Inder hielt. Auch später während der Flucht glaubt man ihm seine irakische Nationalität nicht und vermutet einen Täuschungsversuch, um leichter Asyl zu erhalten. Der Erzähler kämpft sich durch, erlebt Schreckliches – insbesondere an der griechisch-türkischen Grenze, wo sich die skrupellosesten Schlepperbanden konzentrieren und Eltern von ihren Kinder getrennt werden – und behält trotz alledem einen heiteren, schelmischen Ton. Woher rührt seine Unfähigkeit, Trauer auszudrücken? Lacht er etwa, um nicht zu weinen? Sollte diese Vermutung stimmen: Im Roman wird die Verdrängung nicht thematisiert, und auch der berühmte Humor der Hoffnungslosen, wie man ihn beispielsweise aus der jüdischen Literatur kennt, kommt nicht zum Tragen. Durch die Unbekümmertheit des Erzähltons und die oberflächliche Beschreibung der Lebensgeschichten anderer Flüchtlinge wird das Leid der Opfer für den Leser wenig nachvollziehbar. Denn die bloße Erwähnung, der krude, unverarbeitete Realismus, erzeugen keine Einfühlung und wirken sich ähnlich wie schnell vorübergehende Nachrichtenbilder aus. Man ist zwar informiert, hat aber zum Leid der Menschen wenig Bezug. Dagegen gibt der Erzähler gerne Klischees und Vorurteile kund, unter anderem über Schwule. So heißt es über den Taksim-Platz in Istanbul: „Niemals hätte ich dort des Nachts allein spazierengehen mögen, weil haufenweise Schwule, auf Kundschaft wartend, den Straßenrand säumten.“
Der ansonsten positiv konnotierte Ich-Erzähler irritiert den Leser mit solchen Aussagen. So viel Nachsicht für kulturelle Eigenheiten – etwa der verbreiteten Homophobie in der islamischen Gesellschaft – mag man nicht aufbringen. Sprachlich ist das Buch an einigen Stellen nicht gut lektoriert. Durch den Kopf des Erzählers wirbeln beispielsweise Fragen „wie Trommeln auf einem afrikanischen Fest“. Warum wurde dieser Roman publiziert? Weil ein aus dem Irak stammender Autor einen Erlebnisbericht über das Flüchtlingsdrama, das sich an Europas Grenzen abspielt, verfasst hat. Was diesem Bericht fehlt, ist ein Verarbeitungsprozess, eine tiefere Auseinandersetzung mit der Realität, an der ein Leser ohne diese Lebenserfahrung teilhaben kann.
Der falsche Inder. Von Abbas Khider. Edition Nautilus, Hamburg, 2008.