Land der Gründer

von Mehmet Rauf Ates

Atatürks Erben. Die Türkei im Aufbruch (Ausgabe IV/2008)


Die türkische Wirtschaft geriet Anfang des Jahrtausends in eine der schwersten Krisen der Geschichte des Landes. Um 2001 einen drohenden Staatsbankrott abzuwenden, schloss die Türkei ein Abkommen mit dem Internationalen Währungsfonds (IWF). Unterstützungskredite über insgesamt 31 Milliarden US-Dollar gewährte die internationale Finanzorganisation, im Gegenzug verpflichtete sich die Türkei zu einem rigiden Sparkurs. Auch das Bankensystem wurde neu geordnet und eine Aufsichtsbehörde eingerichtet. Die Zentralbank ist heute autonom.Zur zweiten treibenden Kraft für die Wirtschaftsentwicklung in der Türkei wurde die Aufnahme der Verhandlungen mit der Europäischen Union über eine Vollmitgliedschaft. Beide Faktoren sorgten dafür, dass die Wirtschaft bis 2007 wieder stark wuchs. Doch die weltweite Hypothekenkrise der vergangenen zwölf Monate trübte auch die Konjunktur in der Türkei. Um eine Rezession zu verhindern, hat die Regierung ein neues Programm aufgestellt. Darin wird ein durchschnittliches Wachstum von fünf bis sechs Prozent bis 2011 angestrebt.

Das Programm setzt allerdings stark auf den Zufluss ausländischen Kapitals, das schon in den vergangenen Jahren das Wachstum befördert hat. Doch die weltweite Kapitalkrise führte auch in der Türkei zu einem Rückgang der ausländischen Investitionen. Zusätzlich beeinträch­tigte die politische Instabilität in Zusammenhang mit dem Verbotsverfahren gegen die Regierungspartei AKP das Anlageklima. Um das Wachstum wieder zu beschleunigen, müssten in die Türkei nun jährlich über 20 Milliarden US-Dollar fließen.Ein weiteres großes Problem der türkischen Wirtschaft ist neben der Abhängigkeit von ausländischem Kapital die hohe Inflationsrate. In den ersten sieben Monaten dieses Jahres erreichte die Teuerungsrate wieder zweistellige Werte. Ein zusätzliches Risiko entsteht durch das hohe Leistungsbilanzdefizit: Die Türkei führt seit Jahren mehr Waren und Güter ein, als sie selbst exportiert. Bis jetzt sah man darin – aufgrund des hohen unmittelbaren Kapitalzuflusses aus dem Ausland – allerdings keine Gefahr. Doch die weltweite Bankenkrise und der stark gestiegene Wechselkurs der türkischen Währung Lira wirken sich negativ auf die Wirtschaftsentwicklung aus. Es wird prognostiziert, dass das Leistungsbilanzdefizit bis zum Jahresende auf etwa 50 Milliarden US-Dollar anwachsen wird.

Auch die Lage auf dem Arbeitsmarkt hat sich – trotz der beachtlichen Fortschritte in den vergangenen Jahren – kaum verbessert. Immer noch liegt die Arbeitslosigkeit bei mehr als 10 Prozent. Das ist hauptsächlich auf fehlende Neuinvestitionen zurückzuführen. Das ausländische Kapital hat es vorgezogen, vorhandene Betriebe zu kaufen. Nur wenige neue Arbeitsplätze wurden geschaffen. Zudem ist die Türkei ein Land mit einer sehr jungen, wachsenden Bevölkerung. Jährlich drängen deshalb eine halbe Million Arbeitskräfte neu auf den Markt.Der Erwerb vieler großer Unternehmen und Banken durch Ausländer birgt aber auch Chancen. Ausländische Unternehmer setzen auf die junge Bevölkerung, den wachsenden Markt, vielfältige Produkte und den Ausbau des Dienstleistungssektors.Infolge der Wirtschaftsentwicklung ist auch der Lebensstandard der Türken in den letzten 20 Jahren gestiegen. Während 1980 von 1.000 Personen nur 17 ein Auto besaßen, waren es Ende vergangenen Jahres 84 von 1.000. 1994 hatte noch niemand ein Mobiltelefon, inzwischen besitzen 700 von 1.000 Türken ein Handy. Und ein weiterer wichtiger Indikator: 1980 konnten nur 1,3 Millionen Personen eine Auslandsreise machen, 2007 fuhren 8,3 Millionen Personen ins Ausland. Banken, Versicherungen, Elektronik, Immobilien, Dienstleistungen und Technologie – in vielen Bereichen ist eine ähnliche Entwicklung zu verzeichnen.

Alle blicken zurzeit auf die qualifizierte Bevölkerung Indiens oder Chinas. Doch auch in der Türkei gibt es in diesem Bereich bedeutende Entwicklungen. Während 1980 erst 66 Prozent der über 15-Jährigen alphabetisiert waren, können heute 89 Prozent lesen und schreiben. 1980 brachten die Universitäten 625.000 Absolventen hervor, Ende vergangenen Jahres waren es bereits über vier Millionen Absolventen.Es darf auch nicht außer Acht gelassen werden, dass in der Türkei auch eine große, neue Unternehmerschicht heran­gewachsen ist. Die letzten Statistiken weisen 780.000 Unternehmer aus. Die allermeisten davon wurden in den vergangenen 25 Jahren gegründet. In den 1960er-Jahren gab es noch 100 bis 200 Unternehmensgründungen jährlich. Heute sind es über 50.000. In Zukunft kann man durchaus mit 70.000 bis 80.000 Unternehmensgründungen rechnen. Somit ist die Türkei auf dem guten Weg, eine neue Entwicklungsstufe zu erklimmen und zum Unternehmerland zu werden.



Ähnliche Artikel

Heiße Zeiten. Wie uns das Klima verändert (Pressespiegel)

Achtung, Assimilaton!

Der türkische Premierminister Erdogan spricht über Integration und Assimilation.

mehr


Ich und die Technik (Thema: Technik )

Wie groß ist Big Data?

von Rigoberto Carvajal

Weltweit wachsen die Datenmengen ständig an – was kann man mit ihnen machen?

mehr


Heiße Zeiten. Wie uns das Klima verändert (Thema: Erderwärmung)

Wohlstandskinder

von Walden Bello

Der Norden und der Süden sind sich einig: Beide sehen keine Alternative zum Wachstum

mehr


Neuland (Theorie)

Kein Index ist perfekt

von Jonathan McClory

Viele Faktoren bestimmen die Außenwahrnehmung eines Landes. Seit langem versuchen Staaten mit Soft Power ihr Image im Ausland zu verbessern. Doch kann man das Bild eines Landes überhaupt messbar beeinflussen?

mehr


e-volution. Wie uns die digitale Welt verändert (Thema: Digitalisierung)

Das Begehren nach Menschen

von Ann Cotten

Wie das digitale Zeitalter eine neue Empfindsamkeit hervorruft

mehr


Kauf ich. Ein Heft über Konsum (Thema: Konsum)

Zwischen Anstand und Glamour

von Aksu Akçaoğlu

Die konservative Mittelschicht in der Türkei versöhnt sich mit der westlichen Shoppingkultur

mehr