Neulich stolperte ich über eine Boulevardmeldung auf der Internetseite der türkischen Zeitung „Hürriyet“: Angekündigt wurde die feierliche Enthüllung eines 31 Meter hohen Soldatendenkmals auf den Hügeln von Polatl?, die sich entlang der Straße nach Ankara erheben. Der Koloss wurde von der Armee und einem privatwirtschaftlichen Konzern finanziert. Dass die Armee sich in die türkische Politik einmischt, ist wohlbekannt. Spätestens seit dem Militärputsch von 1980 spiegelt sich diese Einflussnahme auch im öffentlichen Raum und füllt ihn mit symbolisch aufgeladenen Denkmälern. Der 31 Meter hohe Soldat ist ein weiterer hilfloser Versuch, auf das sich wandelnde Kräfteverhältnis im Land zu reagieren. Überall dort, wo man sich öffentlich austauscht, beherrscht die starke Polarisierung zwischen kemalistisch-nationalistisch versus neoliberal-muslimisch die Auseinandersetzung. Daneben gibt es aber auch eine schweigende Mehrheit, die darauf wartet, dass die Wogen sich wieder glätten.
In dieser Situation erwartet man von der Kulturszene, dass sie alternative Denkweisen jenseits der eingetretenen Pfade entwickelt. Gegenwärtig vollzieht sich ein Wandel im Verständnis des bildenden Künstlers hin zum Wissensproduzenten und Aktivator, der hier eine vitale Rolle spielen könnte, weil unmittelbare, auf den Punkt gebrachte Aktionen und eine frische, gegenläufige Ausdrucksweise gefragt sind. Doch solche Reaktionen kommen momentan eher aus der Tradition der Karikaturen und Comics – in wöchentlichen Magazinen wie „Penguen“ und „Uykusuz“ – als aus der bildenden Kunst und der Kulturszene im Allgemeinen. Nur einige Blogs versuchen, mit verschiedenen Diskussionen die lähmende Stimmung aufzubrechen. Warum ist die türkische bildende Kunst so träge?Eine Besonderheit der kulturellen Szene der Türkei ist ein Mangel an Kommunikation zwischen der Hauptstadt Ankara, die überhaupt keine Berührung mit zeitgenössischer Kunst und den damit zusammenhängenden Diskussionen hat, und der kulturellen Metropole Istanbul mit einer immer bekannter werdenden Biennale, einem internationalen Zentrum für Gegenwartskunst, das mit vielen verschiedenen Kunstinstitutionen im Ausland zusammenarbeitet, einigen privaten Museen, die in den letzten Jahren ihren Betrieb aufgenommen haben, wie Istanbul Modern, Santralistanbul, Pera Museum und Sabancı Museum, einigen erfolgreichen Künstlerinitiativen wie Apartman, BAS, Masa, Hafriyat und PiST, die einen Gegenpol gegen die „private Sene“ bilden, und nicht zuletzt der Auszeichnung als Europäische Kulturhauptstadt 2010.
Mit seiner einzigartigen städtischen Dynamik zieht Istanbul viele künstlerisch interessierte und aktive Menschen aus aller Welt an. Doch obwohl all dies stattfindet, bleiben Kunst und Kultur für die Regierung unsichtbar, und alles, was bisher realisiert wurde, ist mit privatem Geld entstanden – von Banken, wohlhabenden Familien, Unternehmen und ausländischen Kulturfonds. Es gibt keine staatlichen Mittel, um junge Künstler in ihrer Arbeit zu unterstützen. Deshalb ist es für junge Künstler sehr schwer, auf eigenen Füßen zu stehen. Es gibt nur sehr wenige private Sammlungen zeitgenössischer Kunst, und der Staat hat seine Sammlung schon vor drei Jahrzehnten aufgelöst. Mein Professor, Erdag Aksel, der selbst ein bekannter Künstler ist, meint hierzu: „Das Problem Istanbuls ist nicht ein Mangel an Ausstellungsräumen, sondern ein Mangel an Herstellungsräumen.“ Hinzuzufügen bleibt, dass auch die neu gegründeten, privat finanzierten Kunsthäuser davon Abstand nehmen, mit jungen Professionellen – Künstlern, Autoren und Kuratoren – zusammenzuarbeiten.
Heute diskutiert die Gegenwartskunst den bildungserzieherischen Status Quo von Kunst und will mit alternativen Ansätzen andersartige Potenziale entwickeln. Die etablierten Kunstschulen der Türkei dagegen sind sehr verschlossen gegenüber allem, was heute als zeitgenössische Kunst auftritt. Diese negative Haltung wurde während der letzten Istanbul Biennale sehr deutlich, als die Dekanin der Fakultät der Schönen Künste der Marmara Universität öffentlich das konzeptionelle Gerüst des Kurators Hou Hanru anprangerte. Hanru machte Modernisierung und Moderne zu zentralen Begriffen. Er kennzeichnete das kemalistische Projekt der Modernisierung als undemokratisch und unmenschlich und sah demgegenüber die Notwendigkeit von Modernisierungsbestrebungen von unten, die auf humanistischen Werten basieren, individuelle Rechte respektieren und wahrhaft demokratisch sind. Die Dekanin warf Hanru vor, gegenüber ethnischen Konflikten in der Türkei nicht sensibel genug zu sein und neue Konflikte heraufzubeschwören.
Diese unglückliche Bemerkung der Dekanin entfachte eine große öffentliche Diskussion, nicht über die Biennale selbst, sondern über das, was Hanru geschrieben hatte. Tatsächlich waren seine Ideen inspiriert von den Theorien eines Soziologen, die zwei Jahrzehnte zuvor niedergeschrieben und offensichtlich von der Dekanin nie gelesen worden waren. Staatlicher Dirigismus war schon immer vorherrschend in der Türkei, und der geschilderte Zwischenfall veranschaulicht, dass eine bedeutende Stätte der Kunstausbildung ihre Eigenständigkeit nicht jenseits der von oben diktierten Grenzen festlegen kann. Hierin spiegelt sich auch die polarisierte Spannung zwischen den kemalistischen und nationalistischen Eliten einerseits und der neoliberalen muslimischen Bourgeoisie andererseits wider. Jede Kritik an den Gründungsideen des Staates wird als Bedrohung wahrgenommen, die von der neuen muslimischen Elite ausgeht und das Land spalten soll. Darüber hinaus war für die Kemalisten der Vorfall während der Istanbul Biennale ein eindeutiger Beleg für die Bedrohung, die von der zeitgenössischen Kunst ausgeht, deren Akteure versuchen, eine kritische politische Haltung aufzubauen.
Jüngere internationalistische Tendenzen innerhalb der Szene der zeitgenössischen Kunst haben eine nationalistische Bewegung in der bildenden Kunst entstehen lassen, die der Globalisierung die Schuld an der ganzen Situation gibt. Natürlich gibt es auch Andersdenkende, aber es ist in den etablierten Kunstakademien noch immer sehr verbreitet, dass Studenten abgewiesen werden, die ihre Abschlussarbeit über Strömungen der zeitgenössischen Kunst schreiben wollen. So hat nicht nur die Herstellung von Kunst, sondern auch die Diskussion und das Schreiben darüber keinen wirklichen Platz an diesen Schulen. Gegenwärtig ist die Kunstausbildung einer der problematischsten Kernpunkte im System Kunst.Direkt involviert in die kulturelle Szene ist die Regierung im Fall der Auszeichnung Istanbuls als Europäische Kulturhauptstadt 2010. Das Kultusministerium zeigt sich an neuen Museumsgroßprojekten interessierter als an einer Neuorientierung der vernachlässigten existierenden Museen. Bis heute fallen die Entscheidungen sehr bürokratisch hinter verschlossenen Türen. Die einzig sichtbare Aktion des Vorbereitungskomitees in der Öffentlichkeit war ein Plakatwettbewerb, dessen Ergebnis mit dem Slogan „Istanbul, Stadt der vier Elemente“ nur die selbstverliebte Pose wiederholt, die auch der Werbung der letzten Istanbul Biennale anhaftete. Diese Form der bildhaften Glorifizierung zeigt, wie sehr die Auszeichnung „Europäische Kulturhauptstadt“ als Schritt in Richtung Europa gesehen wird, ein eher bürokratischer Schritt, der nicht in Richtung einer reicheren kulturellen Szene geht.
Zum ersten Mal gibt es öffentliche Mittel für Kunstprojekte, doch die Förderungen sind bisher eher dem Kulturtourismus verschrieben. Die unabhängigen Künstler erhalten kaum Unterstützung, so viel kann man heute sehen. Inzwischen werden Künstler, die sich für ihre Projekte um Gelder aus dem Fond bewerben, ermutigt, sich um private Gelder zu bemühen – mit dem 2010 Logo, das würde helfen – denn die Gelder der EU reichten wahrscheinlich nicht, um die Planung für 2010 umzusetzen.Problematisch ist auch, wie die Regierung sich auf das Jahr als Kulturhauptstadt vorbereitet. Sulukule, das historische Roma-Viertel der Altstadt wird abgerissen, seine Bewohner in entlegenere Bezirke umgesiedelt, um das Gebiet für profitable Investitionen zu „säubern“. Ministerpräsident Erdoğan betonte, dass die Säuberung der Stadt im Zusammenhang mit dem herannahenden Jahr als Kulturhauptstadt stehe, und zeigte keinerlei Verständnis für die Organisationen, die das Viertel zu retten versuchen. Wie zu erwarten, wurde diese Äußerung von der Kulturszene scharf kritisiert. Das Kulturhauptstadt-Vorbereitungskomitee reagierte nicht auf diese Kritik und nährte damit Vermutungen, das Komitee selbst sei gegen das Sulukule-Projekt der Regierung.
Nicht hü und nicht hott? So scheint es jedenfalls. Die unabhängigen Stimmen aus der Szene der zeitgenössischen Kunst sollten aktiver sein und nach Ausdrucksmöglichkeiten suchen, die Bewegung in die traumatisierende Kluft zwischen den gesellschaftlichen Fronten bringen. In jüngster Zeit gab es Versuche, kollektiv gegen den populistisch-nationalistischen Trend zu arbeiten. Doch die langwierigen Auseinandersetzungen über die Frage, wie man eine substanzielle kritische Stimme schaffen könnte, erinnerten stark an die Auseinandersetzungen zwischen den verschiedenen linken politischen Strömungen in der Türkei. Man muss innerhalb dieser künstlerischen Bewegung auch über neue Wege finanzieller Unterstützung nachdenken, um die Stellung, die man sich erarbeitet, auch halten zu können. Wenn Wut und Hoffnung zusammenkommen, ist das immer ein probates Mittel für Veränderung.
Aus dem Englischen von Karola Klatt