Vor einer Viertelstunde bin ich im Sultanat Oman, dem südlichsten Zipfel der Arabischen Halbinsel, gelandet. Exit – zum Ausgang. Milchige Glastüren öffnen sich. Auf vieles war ich vorbereitet – aber nicht auf das: Tausend dunkle Augenpaare starren mich an. Ich muss mich durch ein dichtes Menschenspalier bewegen, vorbei an weißen wallenden Gewändern der Männer und schwarzen Kutten vereinzelter Frauen. Bis zu dieser Flughafen-Glastür dachte ich, in unauffälligem Hosenanzug durchaus korrekt gekleidet zu sein, Arme und Beine sittsam bedeckt. Plötzlich fühle ich mich seltsam nackt, ausgeliefert in einer völlig anderen Welt. Jetzt ist Befangenheit mein Mitbringsel.
Ich bin beruflich viel in Ländern unterwegs, in denen italienische Edelschneider oder spanische Konfektionsketten Modernität, Sportlichkeit oder Seriosität signalisieren wollen und sogar in gewisser Weise völkerverbindende Kollektionen entwerfen – aber für welche Völker? Für die Besserverdiener von Berlin, Singapur, Tokio, Madrid, Moskau, New York, London, Paris oder Rom?
Zuweilen stecke ich mittendrin, jedes Mal neu verunsichert: Ich bin Deutsche, mir hängt in Geschmacksfragen ein schlechter Ruf an, besonders in Sachen Mode, denn häufig treffe ich meine Kleiderauswahl nach praktischen Aspekten, ganz im Gegensatz und zum Entsetzen meiner romanischen Freundinnen. Die Trendsetter-Rolle liegt mir nicht so, eher die Stimmungslage: Ist mein Dekolleté tief, mein Rock kurz, nenne ich es Freizügigkeit, sogar Befreiung. Es kommt auch vor, dass ich mich modisch wegducken möchte. Dann beneide ich die Araberin unter ihrem weiten Gewand, die schöne Inderin, die nie ihre Beine zeigen wird (wohl aber ihren Bauch), oder die traditionelle Koreanerin, die ihre Hände versteckt hält. Aber was davon auf Männer anziehend wirkt und ob meine Bekleidung irgendeiner Tradition oder Moralvorstellung entspricht, darüber habe ich bisher nie nachgedacht.
Im tropischen Reiseziel angekommen, ist es auf einmal so weit: Nachdem mich der klimatisierte Airport-Bereich freigegeben hat, haftet nicht nur mit jedem Schritt meine europäische Robe feuchter an mir, ich empfinde obendrein jeden Blick als stechend. Was ich in diesem Land will, ist für andere nicht zu erkennen, und mit meinem unbedeckten Haar bin ich wohl schon ein beachtlicher Reizfaktor. Unsicher gehe ich voran. Enthalten diese fremden Blicke Wohlgefallen oder gar Skepsis gegenüber dem Auftreten einer westlichen Frau? Man scheint mir mit den Augen zu folgen, bis ich im Taxi verschwunden bin.
Nur einige Flugstunden von Berlin entfernt gilt mein dunkler Hosenanzug als „Männerkleidung“ – nun bin ich laut Islam-Knigge eine der ernsten Bedrohungen islamischer Rechtgläubiger. Ich blättere im „Hijab, der Kleiderordnung der Muslimischen Frau nach Quran und Sunnah“ und bin baff: „Frauen dürfen keine Männerkleider tragen denn der Prophet verfluchte Frauen, die sich wie Männer kleideten: Werft sie aus euren Häusern!“ Dieses Druckwerk schreibt weiterhin den Frauen in allen Einzelheiten vor, wie sie sich außerhalb des Hauses zu bewegen haben: „Die islamische Frau muss vor den Blicken fremder Männer geschützt werden, weil eine Frau ohne Hijab die Männerblicke auf sich lenkt und dies zu niedrigen Motiven und Begehren der Männer führen kann.“
Folglich geht es bei der Verhüllung der Frau immer um den Mann? Seinetwegen, seines Triebes wegen, seiner frivolen Gelüste wegen müssen meine muslimischen Schwestern in Sack und Asche gehen, müssen bei tropischen Temperaturen unter ihren schwarzen Stoffen wie in einer finnischen Sauna schwitzen? Sind Osteoporose und Rachitis gefährdet, weil kein die Vitamin-D-Produktion anregender Sonnenstrahl ihre Haut trifft? Ich versuche immer wieder, mich in diese bizarre Denkweise hineinzuversetzen. Es will mir nicht gelingen.
„Stellt Eure Reize nicht heraus wie in der früheren Zeit der Unwissenheit“ (Sure 33.33), befiehlt der Koran. Welche Zeiten sind gemeint? Jene im Paradies, als unsere Urahnen ungeniert zwischen Apfelplantagen umherirrten, bis Eva Adam verführte, vom Baum der Erkenntnis zu naschen? Oder die antiken Zeiten der griechischen Mythologie, als starke Göttinnen den Männern Beine machten?
Das müssen echte Power-Weiber gewesen sein, so dass sich die Männerwelt mit der Erfindung neuer patriarchalischer Religionen an ihnen rächen wollte. Denn eigenartig: Alle drei Religionen des Buches, Judentum, Christentum sowie Islam, pflegen oder pflegten die Unterdrückung der Frau. Sie wurde versteckt und verhüllt. Apostel Paulus befand, dass der Mann Abbild Gottes sei, die Frau nur Abbild des Mannes, sie müsse deshalb ihren Kopf bedecken. Zu Mohammeds Zeiten diente der Schleier der sozialen Abgrenzung und war Frauen aus privilegierten Kreisen vorbehalten.
Erst langsam avancierte er zu einem hochaufgeladenen Textil. Verhüllte Musliminnen wirkten auf damalige Kolonialherren höchst reizvoll. Es kam vor, dass Orientalinnen durch westliche Schwerenöter gezwungen wurden, den Schleier abzulegen, damit voyeuristische Maler und Fotografen Harem-Bilder mit halb nackten Damen produzieren konnten – eine der vielen schlechten Erfahrungen mit dem Abendland, die noch heute das gesellschaftliche Leben in den postkolonialen Staaten der arabischen Welt prägen. Dabei spielt auch die radikale Rückbesinnung auf die islamische Kultur eine wichtige Rolle, geschlechterspezifische Konflikte bleiben tabuisiert. Formen des Widerstandes, die es in den 1.300 Jahren der Geschichte des Islams gab und an denen Frauen beteiligt waren, werden ignoriert.
„Die Bedeckung mit Kopftuch und Mantel hebt die Gleichheit der Schwestern im Islam hervor und entlastet vom Leistungsdruck weiblicher Schönheitskonkurrenz“, schreibt die ägyptische Wissenschaftlerin Fadwa El Guind. Sie erklärt weiter: Durch eine bescheidene und anständige Kleidung wolle die Muslima dem Willen Gottes entsprechen. So stehe sie ganz im Gegensatz zu verwestlichter Kleidung, die mit schamloser Entblößung und damit einer Entwürdigung der Frau verbunden werde. Aber gerade im chaotischen Kairo werden die Kleidervorschriften nicht extrem streng gehandhabt, ebenso wenig in Tunesien, in Algerien, Marokko oder dem Libanon. Unterhalb der Corniche von Beirut habe ich im Hochsommer badende Mädchen beobachtet, die in voller Montur inklusive Kopftuch zu schwimmen versuchten. Gleich nebenan räkelten sich am Pool des Hilton-Hotels von der Sonne gegerbte Bikini-Beautys libanesischen Ursprungs.
Das Taxi fährt mich vom Flugplatz zur Sultan Qaboos Universität außerhalb der Hauptstadt Maskat im Oman. Es ist das Musterland der streng arabischen Welt in Sachen Reform und Frauenrechte, denn die meisten Omanis gehören einer Art „Dissidenten-Islam“ an, den Ibaditen. Jedes Kind geht zur Schule und die Hälfte der Studenten sind Frauen. „Jede Studentin darf sich nach ihrem Geschmack kleiden“, empfängt mich die freundliche Pressesprecherin Fawzia, „alles ist erlaubt – mit einer Ausnahme: Die Verschleierung ist verboten, denn zu oft wurde bei Prüfungen unter dem schwarzen Tuch gemogelt.“ Weibliche und männliche Studenten sitzen im selben Hörsaal: „Männer vorne, Mädchen hinten.“
Diese Begegnung stärkt mein eigenes Selbstbewusstsein. Zur nächsten Einladung, einem privaten „Coffee-morning“ bei Fatma, der Koran-Lehrerin, gehe ich in einem Kostüm nach westlichem Schnitt – meine Beine sind sichtbar. Aber die anderen Frauen tragen fast alle schwarze, lange Abayas plus Kopftuch. Hat ein Kloster Ausgang? Und doch findet hier Mode statt. Die Damen bewundern die winzigen Unterschiede ihrer Abayas, die kunstvollen Hohlsäume, die gestickten Blüten oder die goldenen Borten. Das hat mein Kostüm nicht zu bieten. Unsicher realisiere ich, dass die Anwesenden mich taxieren, mein schlichtes Äußeres einzuordnen versuchen. Irgendwann fasse ich mir ein Herz: „Warum seid ihr hier, unter uns und bei dieser Hitze, so schwarz eingepackt?“ – „Schwester, wir fühlen uns wohl. Außerdem könnte der Gärtner das Haus betreten.“
Wenn zur Kultur eines Volkes seine Selbstdarstellung gehört, dann steckt der feminine Teil der islamischen Länder seine Intimsphäre, seine Scham sehr weiträumig ab. Viel weiter als in der Welt des Westens: Als Samia, die Studentin der Tourismus-Akademie des Sultanats Oman, in einem Bergdorf aufgewachsen, vor einem Jahr bei mir in Berlin ankam, in einer Welt, die ihre Art der gesitteten Bekleidung nicht anerkennt, sogar als minderwertig, als Mode-Muff oder Freiheitsberaubung abtut, war sie schockiert. Mit ihr geriet der Gang durch eine mir sonst vertraute deutsche Fußgängerzone im Sommer zur seelischen Tortur. Durch ihre orientalische Optik bemerke ich die prallen Popos in hautengen Hosen, die knappen Shirts sowie die kurzen Röcke. Unsere „freiheitliche“ Alltagswelt war für Samia wie ein pulsierendes Porno-Poster, auf dem sich die Geschlechter inszenieren. Sie formulierte es sehr deutlich: „So viel Prostitution in eurer Stadt – alle Frauen so leicht zu haben.“ Das hat sie anfangs enorm verwirrt, sie fühlte sich schutzlos. Langsam begann ich zu ahnen, dass Samias schwarze Verhüllung für sie selbst eine doppelte Funktion hat: nach außen geschlechtsneutralisierend, nach innen geschlechtsbetonend. „Meine korrekte Kleidung ist für mich ein Befehl Gottes. Ich will nicht durch meine Weiblichkeit wirken, sondern durch meine inneren Werte. Damit fühle ich mich geborgen und damit werde ich in meinem Dorf – auch in der Universität – von den Männern respektiert.“ Nach und nach begriff Samia dann, dass sie in Berlin nicht bei jedem unverhüllten Hals oder Kopf einer Vergewaltigung ausgesetzt ist.
Zurück in Samias Heimat: Als ich dort nach Tagen meine Reise beende und wieder am Ausgangspunkt, also am Flugplatz, eintreffe, befindet sich neben mir der weibliche Part einer jemenitischen Familie. Die Herren sitzen weit abgesondert in ihren weißen Dishdashas, darüber die typische zerbeulte Anzugjacke samt kunstvoll ziseliertem Krummdolch im Gürtel – malerische Gestalten. Sie tun so, als hätten sie mit dem Rest der weiblichen Verwandtschaft in ihren beklemmenden Stoffmassen nichts zu tun. „Meine Tochter Bilqis wird Zahnärztin, sie ist sehr schön“, sagt die Mutter durch ihren Gesichtsschleier hindurch und deutet neben mir auf etwas, das ein Lebewesen sein könnte. Es befindet sich unter einem blickdichten Zelt. „Wirklich?“ „Ja, weil sie so schön ist, darf sie kein Mann sehen.“ „Aha?“ Wieder wendet sich die Mutter an mich und fragt: „Schwester, warum bist du eigentlich nicht verhüllt? Du siehst doch gar nicht so schlecht aus?“