Ann ist 60 Jahre alt. Sie ist nie krank gewesen. Sie ist der Nabel einer großen Familie, die geballte Kraft. Als Elin, eine ihrer drei Töchter und alleinerziehende Mutter auf einmal krank wird, kümmert sich Ann um alles. Plötzlich bekommt sie Schmerzen in der Brust, kalten Schweiß und Atemnot. Ihr Mann eilt mit ihr in die nächste Notaufnahme, wo sie kollabiert und an ein Atemgerät angeschlossen wird. Man stellt fest, dass die Pumpleistung des Herzens stark vermindert ist und die linke Herzkammer die Form eines Ballons mit einer sehr schmalen Öffnung angenommen hat. Die Ärzte diagnostizieren bei Ann ein Gebrochenes-Herz-Syndrom (Broken Heart Syndrome), eine gefährliche Akutreaktion mit schwerer Herzinsuffizienz, die vor allem Frauen über 50 befällt. Nach einer Woche ist die Herzschwäche fast verschwunden und die meisten Tests zeigen normale Werte, übrig sind nur extrem hohe Werte an Stresshormonen im Blut.
Das Broken Heart Syndrome ist eine neue Krankheit, die zuerst in Japan beobachtet wurde und nun auch nach Europa und Schweden gekommen ist. Verwirrend ist, dass dieses Syndrom nur Frauen mittleren Alters trifft, die schwerem psychischem Stress ausgesetzt waren, etwa durch den Tod eines Angehörigen, einen schweren Autounfall, Sorgen in der Familie, einen Einbruch, Brandstiftung an Haus oder Auto. Untersuchungen dazu, welche Prioritäten Frauen in ihrem Leben setzen, zeigen, dass die Kinder an erster Stelle stehen, dann kommt das Zuhause, die Karriere, das Haustier, der Ehemann und am Schluss sie selbst. Eine entsprechende Untersuchung mit Männern offenbart, dass Männer die eigene Person weiter oben platzieren. Dass die Geschlechter verschieden auf Stress reagieren, ist klar, schließlich sind wir durch unsere Erziehung geprägt, da ist unser genetisches Erbe, da sind unsere Hormone und unsere Geschlechtsrollen.
Daher verhält es sich mit Krankheit und Gesundheit bei Männern und Frauen unterschiedlich. Sie erleben auch Schmerzen, Sinneswahrnehmungen, sexuelle Attraktivität oder Elternschaft anders. Das Suchtverhalten ist von Mann zu Frau verschieden, an Kaufsucht leiden vor allem Frauen, an Sexsucht vor allem Männer. Wichtige Geschlechtsunterschiede kommen mit zunehmendem Alter zutage, so erkranken etwa mehr Frauen als Männer an Alzheimer.
Dass Männer und Frauen Krankheit und Wohlbefinden anders erleben, hat viele Ursachen: biologische, genetische, anatomische, physiologische, psychologische, sozialökonomische und kulturelle, beispielsweise ist das Herz von Frauen kleiner und die Blutgefäße inklusive der Herzkrankgefäße sind enger. Frauen haben oft andere Krankheiten als Männer: an rheumatischen Erkrankungen, Multipler Sklerose, Lungenkrebs, chronisch obstruktiver Lungenerkrankung, Depression, brüchigen Knochen, Harninkontinenz, Gallensteinen, Schilddrüsen-Erkrankungen, Schleudertraumata und chronischer Müdigkeit leiden vor allem Frauen.
Wenn gendermedizinische Aspekte bei der Krankenpflege berücksichtigt würden, könnte Frauen eine bessere Pflege zuteil werden. Die Beispiele sind zahlreich: Bei einem Zeckenbiss entwickelt sich bei Frauen über 45 Jahren nicht der typische rote Ring um die Bissstelle. Deswegen wird diesen Frauen oft nicht das lebenswichtige Penicillin verabreicht. Oder: Nach der Operation eines Leistenbruchs kommt es bei Frauen öfter zu Komplikationen, weil man sich oft nicht darüber bewusst ist, dass ihre Anatomie anders beschaffen ist, und daher fehlerhaft operiert.
Ich fing Anfang der 1980er Jahre an, mich mit gendermedizinischen Fragen zu beschäftigen. In der Kardiologie erlebte ich, dass die Patientin gerne übersehen wurde. Sehr oft war sie zu alt oder litt an zu vielen Erkrankungen, als dass man sich ihrer mit vollem Einsatz angenommen hätte. Man verstand ihre Sprache nicht, die nicht direkt zur Sache kam. Sie klagte bei einem Herzinfarkt weniger über Schmerzen, musste länger auf den Notarztwagen warten und ihr wurde billigere und schlechtere Medizin verabreicht. Sie wurde nicht in Forschungsstudien aufgenommen, meistens aufgrund einer Altersgrenze von 60 Jahren – der weibliche Herzinfarktpatient ist zehn Jahre älter als der männliche.
Im Jahr 2001 eröffnete ich am Stockholmer Karolinska Institut das erste gendermedizinische Forschungsinstitut der Welt. Inzwischen haben sich unsere Ideen in Europa ausgebreitet, 2004 wurde an der Charité in Berlin ein Forschungszentrum eröffnet, in Wien eines 2006. In den USA gibt es das Centre of Gender Specific Medicine an der Columbia University. Unsere Hoffnung ist, dass in Europa weitere Forschungszentren eröffnen und der Forschungsrat der Europäischen Union Interesse zeigt, unsere Arbeit zu unterstützen. Denn auf Gendermedizin zu setzen bedeutet, die Gesundheit wie auch die Behandlungsmöglichkeiten von Krankheiten sowohl bei Männern als auch bei Frauen zu verbessern.
Aus dem Schwedischen von Annalena Heber