Wunderbar simple Kreisdarstellungen haben in den letzten 200 Jahren die Geschichtsbilder über die vergangenen 2.000 Jahre geprägt: Byzanz und Rom, Konstantinopel und das Christentum, die Zangenbewegung des Islam in Spanien und auf dem Balkan. All diese kartographischen Figuren haben die wirkliche Entwicklung der Kulturen in den 2.000 Jahren, ihre Durchmischung, ihre Vielfalt mißachtet. Natürlich sind die Bosnier Europäer und gibt es in Anatolien viele Türken, die ehemalige Bosnier sind, also Europäer, und natürlich gibt es kaum eine deutsche Kirche, in der sich nicht Bauelemente der Italiener oder Franzosen finden. Natürlich hat die islamische Kultur zu verschiedenen Zeiten die spanische und damit auch die französische auf sehr unterschiedliche Weise mitgeprägt.
Der Historiker und Politikwissenschaftler Samuel P. Huntington geht in seinem Artikel »The Clash of Civilizations« von homogen gedachten Zivilisationen aus. Vieles an seinem Befund ist richtig, aber die Schlußfolgerungen sind zu einfach: Wir stehen überall zwischen den Zwängen zu übernationaler Zivilität oder dem falschen Pochen auf eine Homogenität, die es so seit Jahrhunderten nie gegeben hat. Dieser Homogenitätswahn kann heute die kleinsten Gruppen erreichen und mißt sich nie an Kulturkreisen, allenfalls instrumentalisiert er sie.
Die neunziger Jahre zeigen: Zivilität und Terror sind globale Chiffren der Jahrtausendwende. Die allmähliche Globalisierung auch unserer deutschen Gesellschaft verändert die Konflikte. Beides scheint einander zu bedingen: die Gefahr global gemeinten, aber lokal wirkenden Terrors und die Chance der lokal stabilen, aber global orientierten Zivilität.
Globalität wird in unsere Welt transportiert durch die drei Globalisierungstechniken: Fernsehen, Ferntelephon, Fernflugzeug. Erst mit einem Zeitverzug von etwa zwei Generationen hatte die Eisenbahn und fast ein Jahrhundert später das Automobil die innergesellschaftliche, die zwischenstaatliche Mobilität entscheidend verändert.
Wie die Eisenbahn im 19., so hat das Flugzeug im 20. Jahrhundert sowohl die Ökonomie als auch die Formen des Krieges neu geprägt. Die neue, erst durch Satelliten und Elektronik mögliche globale Ad-hoc-Präsenz ist seit Ende der siebziger Jahre nicht mehr ausschließlich in der Kontrolle staatlicher oder quasistaatlicher Agenturen (die die alten Telexleitungen, die schwerfälligen Flugverbindungen weitgehend kontrollieren).
Von allen bemerkt, aber im politischen Diskurs kaum beachtet, hat die elektronische Gleichzeitigkeit, realisiert erst in den achtziger Jahren, nicht nur die modernen Börsenvorgänge auf gefährliche Weise revolutioniert. Wenn alle über alles Abend für Abend informiert werden können, wenn zugleich die jeweiligen Täter weltweit ihre Gegendarstellung per Fax oder Telephon übermitteln können, wenn die jeweiligen Konfliktparteien Menschen oder Meinungen global mobilisieren können, dann hat der alte Krieg zwischen Staaten, hat der traditionelle Konflikt ausgespielt. Die Formen der Konfliktaustragung verändern sich, und dabei wird dann »Kultur« oder »Religion« als jeweilige Heilslehre in sehr verkürzter Form zur Joker-Karte verstümmelt. Selbst die anscheinend so kompakte chinesische Zivilisation steht unter Globalisierungszwängen.
Ich vermute, daß die Folgen dieser Globalisierung in nächster Zukunft mindestens so viel Anstrengung der Politik erfordern wie die wichtigen anderen großen Fragen der neunziger Jahre: Fragen der Wirtschaftspolitik, der Arbeitskultur und der Grenzen der Belastbarkeit der Natur.
Das zivile Westeuropa hatte nach dem Zweiten Weltkrieg eine Idee von sich selbst: Demokratie, Einheit, westlich geprägter Friedenswille nach innen und außen, zusammengehalten vom militärischen und ideologischen Druck jenseits der Mauer. Dort wurde das europäische Erbe des Humanismus anders eingebaut in den auch als modern verstandenen diktatorischen Staat. Den beiden so verfeindeten Blöcken schienen einige Grundprinzipien gemeinsam, trotz aller Unversöhnlichkeit: Zumindest verbal lehnten beide Lager den Rückfall in nationalistische Sackgassen ab.
Der Konsens über dieses zivile Europa ist am Krieg im ehemaligen Jugoslawien zerbrochen
Beide beanspruchten »Internationalität« als positives gemeinsames Ziel. Beide Blöcke nahmen in Anspruch, daß nach 1945 rassistische Ideologien keinen Platz mehr haben könnten in ihrer modernen Welt. Südafrika hatte »ideologisch« die Welt geeint. In vielen Resolutionen zu Südafrikas Apartheid schienen sich Amerikaner und Sowjets ebenso einig wie Westdeutsche und Ostdeutsche. Natürlich versuchte jede Seite, die andere noch einmal in die Nähe des gemeinsamen Geächteten zu rücken: dem Westen wurde Apartheid-Nähe vorgeworfen, dem Osten imperialistische Ziele. Aber die gegenseitige Vorwurfs- und Achtungsmechanik funktionierte auf der Basis von prinzipiellen, in der Regel aber nur verbalen Gemeinsamkeiten.
Zumindest in der Theorie hatte sich auch die nachstalinistische kommunistische Diktatur auf das Ziel der Zivilität – das friedliche Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher Religion, Rasse oder Kultur – festgelegt. Als diese Diktaturen zerbrachen, stand darum mehr oder weniger zweifelsfrei fest: Jetzt geht es um den Aufbau von Demokratie, Rechtsstaat und Marktwirtschaft, auf welch schmerzlichen Umwegen auch immer. Uns allen stand das zivile Europa vor Augen: das Europa des Bürgerrechts, das über allen völkischen, rassischen Zuordnungen rangiert.
Der Konsens über dieses zivile Europa ist am Krieg im ehemaligen Jugoslawien zerbrochen. Teile des ehemaligen Jugoslawiens sind zum Schauplatz des ersten modernen Terrorkriegs nach 1945 geworden. Terror um Abstammung und Abtrennung, um Zugehörigkeit und Ausschließung. In scheinbar anderen Worten und mit dem tödlichen Folklorehauch »Balkan« verbrämt, melden sich die dreißiger und vierziger Jahre des deutschen Rassenwahns wieder: Wer Serbe, wer Kroate ist, bestimmen die Mächtigen.
Die Millionen dazwischen, die Kinder und Enkelkinder, deren Großväter und Großmütter noch in die Moschee, deren Eltern in die orthodoxe oder katholische Kirche gingen, werden in den völkisch definierten Zugehörigkeitswahn hineingezwungen. Seit Ausbruch des Krieges sind in der Industriestadt Tuzla 36 Prozent aller Eheschließungen »Mischehen« zwischen Angehörigen verschiedener Religionen. Die Stadtverwaltung schätzt, daß etwa ein Drittel der Bürger keiner der Religionsgemeinschaften mehr zuzurechnen ist, weil es sie nicht mehr interessiert oder weil sie oft Großeltern aus allen drei Religionen haben. Aber die Zuordnung wird zum politischen Bestimmungsgrad aller Kriegsziele im Innern und aller Friedensüberlegungen der internationalen Gemeinschaft.
In einem gleicht die Trauer von vertriebenen Bosniern, die die Vertreibung aus ihren Städten überlebt haben, der Trauer der Libanon-Flüchtlinge Mitte der siebziger Jahre: Immer wieder erzählen sie von den Erinnerungen an das friedliche Zusammenleben mit Nachbarn der anderen Religion, berichten von einzelnen Begegnungen und Freundschaften – Christen von Muslimen, Muslime von Christen. Bis sich der Blick wieder verdüstert: »Aber jetzt ist alles zerstört, die anderen haben uns alles geraubt.«
Die gelebte Wirklichkeit in Städten wie Beirut oder Sarajevo war wesentlich stärker vom Zusammenleben geprägt als vom Getrenntsein. In der Erinnerung allemal. Die Hoffnung auf Rückkehr drückt oft gerade die Sehnsucht nach dieser Form kultureller Zivilität aus, wie sie der Libanon und Bosnien einst dargestellt hatten.
Das spezifische Heimweh der Vertriebenen scheint bestimmt von der oft verklärten Erinnerung an die friedliche Nachbarschaft mit Menschen anderer Religion. Und es tauchen besonders viele auf, die es ablehnen, zu der einen oder anderen Gruppe gerechnet zu werden. Ein trauriges »Aber ich bin doch immer noch Jugoslawin, mein Vater war Serbe, meine Mutter Muslimin« begleitet manche Schilderung.
Die Nazis waren gefährliche Vorläufer: Ihr Zugehörigkeitsterror war keine lästige, etwas altmodische Begleiterscheinung einer totalitären Diktatur, er war ihr zentraler Wesenszug. Er richtete sich gegen die Idee der Aufklärung von einer rechtlich abgesicherten Staatsbürgerschaft. Hitler zerstörte die überreligiöse, übervölkische, die zivile Bürgerschaft. Das Erbe der Aufklärung war dagegen die Vielheit in der Gemeinsamkeit.
Aber auch der Aufklärungsauftrag der Moderne scheint nicht gefeit gegen terroristische Wirkungen: Wenn aus der modernen Staatsbürgerschaft das Recht auf Unterdrückung der kulturellen Traditionen, der je eigenen Sprache oder Religion abgeleitet wird, wie es die türkischen Regierungen der achtziger Jahre gegen die Menschen kurdischer Kultur taten, dann zerbricht auch die Aufklärungsidee des demokratischen Bürgerstaates.
Die Sprengsätze gegen das Ähnlichwerden explodieren weltweit, von Manhattan bis Oberägypten
Es geht nicht mehr wie im 18. Jahrhundert allein um Toleranz und Anerkennung des »Anderen«, es geht weit mehr um die moderne Akzeptanz des Ähnlichen und Gleichen. Der Terror richtet sich gegen die Ähnlichkeit des Anderen in der Moderne. Der Terror richtet sich gegen die notwendige Balance zwischen dem je Eigenen und dem modernen Weltmarkt, gegen die Hoffnungen der Jugendlichen auf Eigen-Art und die Teilhabe an globalen technischen und modischen Entwicklungen. Da reicht es nicht mehr, einander als »alle Menschen werden Brüder« die Hand zu reichen. Wir alle sind einander ähnlicher geworden als Arbeitnehmer, als Käufer auf den internationalen Märkten, als Staatsbürger, ja auch als Verkehrsteilnehmer.
Die Sprengsätze gegen das Ähnlichwerden explodieren weltweit: von Manhattan bis Oberägypten. Europäer werden in Algier umgebracht, türkische Familien in Deutschland, Touristen in Kairo und im türkischen Badeort Antalya. Verglichen mit den Opfern der Kriege in Bosnien oder in Afghanistan sind die Zahlen der Toten niedrig. Aber die tödlichen Signale haben Millionen erreicht. Der Terror hat ganz unterschiedliche Begründungen, aber ein gemeinsames Motiv: Der Mord ist als Abmarschbefehl gemeint. Er richtet sich nicht gegen Individuen, sondern gegen Stellvertreter von Gruppen. Das Signal heißt: Verschwindet, laßt euch hier nicht mehr sehen! Der Terror richtet sich nur zufällig gegen diese Opfer, er meint alle anderen, alle Ausländer in Deutschland oder in Algerien, alle Touristen in Ägypten und in der Türkei.
Er meint aber auch die ökonomischen Beziehungen des eigenen Landes oder der eigenen Gruppe zur Weltwirtschaft. Tourismus ist ein wichtiger Teil davon. Wir sind in Bosnien Zeugen des Erfolges von antiökonomischen Terroristen gegen alle Kulturen des Zusammenlebens. Sie bringen eine paradoxe Erwartung gleich mit zum Ausdruck: Wenn wir uns von den »Fremden« erst befreit haben, dann muß die internationale Gemeinschaft uns bei den ersten Schritten in die Zukunft unterstützen.
Hans Magnus Enzensberger hat in seinem jüngsten Essay »Aussichten auf den Bürgerkrieg« die globale Vergleichbarkeit der durch Terror ausgetragenen Konflikte konstatiert. Der Essay ist zu Recht gewürdigt worden – wer sonst unter den deutschen Intellektuellen hat sich seit 1989 in die Terrorsümpfe der postkommunistischen Zeit begeben? Er ist zu Recht getadelt worden, denn neben aller selbstmörderischen Zerstörungswut haben die Konflikte reale Ursachen und müssen der Politik wieder zugänglich werden, deshalb dürfen sie bei Strafe der theoretischen Erblindung nicht zu einem »einzigen Bürgerkrieg« reduziert werden.
Erschienen in Zeitschrift für Kulturaustausch 4/1994 zum Thema »Kulturenkonflikte. Herausforderungen für die Auswärtige Kulturpolitik«