Von Diana Berg
Berlin, 2. Mai 2022
Am ersten Tag des Krieges hatte ich nicht allzu viel Angst. Ich leite die Kunstplattform Tju in Mariupol, und ich war mit einem Austauschprogramm für Künstler beschäftigt, das an diesem Tag beginnen sollte. An das Geräusch von Granatenfeuer hatte ich mich schon gewöhnt. Wir haben es in Mariupol jahrelang aus der Ferne gehört. Mein Mann und ich beschlossen zu bleiben, einige unserer Freunde und Teammitglieder reisten jedoch sofort ab.
Schon am ersten Tag standen die Leute für Lebensmittel Schlange. Und es wurde von Tag zu Tag schlimmer. Der Beschuss kam näher, immer mehr Menschen verließen die Stadt, die Panik wuchs. Am 1. März beschädigte ein Luftangriff mehrere Kraftwerke, die den größten Teil der Stadt mit Strom versorgten, sowie das Heizungs- und Wassersystem.
Außerdem waren wir vom Mobilfunknetz abgeschnitten, da auch Funktürme getroffen waren. Wir konnten keine Nachrichten senden oder empfangen und hatten keine Ahnung, was im Rest des Landes oder auch nur in der Stadt geschah. Wann immer ich einen Moment lang Empfang hatte, schickte ich Überlebens-SMS an Verwandte und Freunde, um ihnen mitzuteilen, dass ich noch am Leben war, aber es war unklar, ob diese Nachrichten tatsächlich ankamen.
Mein Mann und ich sind beide Aktivisten. Wir wussten nicht, ob die Stadt bereits eingeschlossen war. Ursprünglich hatte ich vor, in Mariupol zu bleiben und alles auf Social Media zu dokumentieren, um auf die Gräueltaten aufmerksam zu machen, die Russland begeht. Aber da es keine Netzverbindung gab, war das nicht möglich. Stattdessen haben wir uns freiwillig in der Stadt engagiert. Wir halfen bei der Sicherung von Unterkünften, wir brachten Möbel in die Bunker.
Schon während der ersten Tage kamen die Explosionen immer näher. Wir sahen, wie Verletzte aus schwer zerstörten Stadtteilen evakuiert wurden. Mehrere Hochschulen und Schulen wurden bombardiert. Eines der Krankenhäuser wurde getroffen. Auch alle Versorgungseinrichtungen waren beschädigt. Wir hatten keinen Strom, keine Heizung und kein Leitungswasser. Man friert und schläft in seinen Kleidern, für den Fall, dass es nachts einen Bombenangriff gibt. Nachts war die Stadt völlig dunkel, das war sehr beängstigend.
Irgendwann beschloss mein Mann, dass wir die Stadt verlassen sollten. Er befürchtete, dass das russische Militär nach Aktivisten suchen könnte – wie sie es 2014 in Donezk getan hatten. Am achten Tag nach Kriegsbeginn packten wir ein paar Taschen und fuhren mit dem Auto los. Zu diesem Zeitpunkt hatte das russische Militär gerade erst begonnen, Mariupol einzukesseln. Auf unserem Weg nach Saporischschja passierten wir nur zwei Kontrollpunkte und konnten durchkommen. Ich hörte von Leuten, die nur ein oder zwei Tage später entkommen waren. Sie sagten, dass es sehr schwierig war, die Kontrollpunkte zu passieren, und dass sie überall auf den Straßen und Feldern Leichen und brennende Panzer gesehen hatten.
Seitdem sind wir unterwegs. Eine Woche hier, eine Woche dort. Es fühlt sich wie ein manischer Zustand an: Nur noch hoffen, nach Hause zu kommen – und gleichzeitig zu wissen, dass das nicht möglich ist. Im Krieg werden alle Pläne über den Haufen geworfen. Du musst deine normalen Projekte oder auch nur die Idee eines normalen Lebens aufgeben. Trotzdem tue ich immer etwas. Ich arbeite derzeit mit meinem Team daran, mehrere Nothilfemaßnahmen einzurichten. Das ist keine normale, bezahlte Arbeit. Es ist, als wären wir jetzt ein Land voller Freiwilliger.
Glücklicherweise ist es allen aus unserem Team der Kunstplattform „Tju” gelungen zu fliehen. Einigen schon früh, anderen erst im April, aber alle sind am Leben und in Sicherheit. Das ist gut so. Aber wir sind überall verstreut. Ich bin vorübergehend in Lwiw. Mein Mann ist in Saporischschja. Andere kamen nach Berlin oder sind nach Georgien gereist.
Eine der ersten Aktionen von Tju nach unserer Flucht war ein Soforthilfeprogramm für Familien. Wir haben unser PayPal-Konto genutzt, um Geld für die Überlebenden von Mariupol zu sammeln, die zwar entkommen konnten, aber alles verloren haben. Wir haben das Programm vor weniger als einem Monat eröffnet und konnten bis jetzt rund 320 Familien helfen. Wir konnten ihnen eine Summe von hundert Euro auszahlen, das hilft vielen sehr. Die Menschen, die sich beworben hatten, haben wir gebeten, einen kurzen Bericht über ihre Situation zu schreiben. Einige schrieben nur wenig, aber manche haben wirklich lange Geschichten geschrieben. Es war furchtbar, das zu lesen und zu verstehen, was für Grausamkeiten die Menschen erlebt haben.
Eine weitere Hilfsmaßnahme besteht darin, dass wir Freiwillige für die Arbeit mit traumatisierten Kindern ausbilden. In vielen Städten der Ukraine gibt es Unterkünfte für Flüchtlinge und Vertriebene. Viele Kinder in diesen Unterkünften überlebten Bombardierungen oder Angriffe und sind schwer traumatisiert. Zwei unserer Mentoren bilden nun Freiwillige darin aus, wie sie kunsttherapeutische Sitzungen für Kinder abhalten können. So ermöglichen sie eine Art erste Traumabewältigung.
Unterdessen hilft mein Mann bei der Evakuierung nach Saporischschja. Ich bin für ein paar Tage nach Berlin gekommen und versuche, Aufmerksamkeit zu schaffen und Hilfsnetzwerke aufzubauen. All das ist ehrenamtliche Arbeit. Wir brauchen dringend Hilfe. Einige freundliche Leute bieten uns Unterkunft, andere helfen bei Veranstaltungen. Im Moment geht es darum, sich gegenseitig zu unterstützen, es geht um Mobilisierung und Nothilfe.
Wenn diese Phase vorbei ist, müssen wir darüber nachdenken, wie wir ein Kunstarchiv für Mariupol aufbauen können. Die Stadt ist seit langem das Symbol des ukrainischen Widerstands. In den Jahren 2014 und 2015 wurde sie kurzzeitig besetzt und wieder befreit. Jetzt sehen wir, dass Russland auf Rache aus ist. Die russischen Streitkräfte wollen die Stadt nicht einnehmen. Sie wollen die Stadt auslöschen. Wenn das ganze Chaos vorbei ist, müssen wir uns Gedanken darüber machen, wie wir eine Gedenkstätte errichten. Was wir erlebt haben, war eine totale Zerstörung.
Aber im Moment ist es sehr schwierig, für die Zukunft zu planen. Zuerst müssen wir all diesen Schmerz verarbeiten. Die Stadt existiert nicht mehr, und wir haben nichts mehr von dem, was dort war. Ich habe mein Zuhause nun schon zum zweiten Mal verloren. Es ist jetzt noch viel schmerzhafter als beim ersten Mal. Alles, was wir in den letzten Jahren gemacht haben, alles, was wir geschaffen haben, ist schwarz – die ganze Stadt, das Meer, alles drum herum liegt in Ruinen. Alles brennt.
Ich ertappe mich immer noch bei dem Gedanken: Vielleicht werde ich zurückkommen! Aber ich weiß, es ist nicht möglich.
Protokolliert von Sandra Rendgen
Diana Berg wurde 1979 im ukrainischen Donezk geboren. Seit ihrer Flucht vor den prorussischen Separatisten im Jahr 2014 lebte sie in Mariupol, wo sie mit einem Team von Künstlern und Aktivisten die Kulturplattform "Tju" aufgebaut hat. Im März 2022 floh sie erneut vor der russischen Invasion und arbeitet seither mit ihrem Team an verschiedenen Nothilfemaßnahmen.